Das verlorene Ich

Moderation: Liane von Billerbeck |
Der amerikanische Autor Richard Powers schreibt in seinem neuen Buch „Das Echo der Erinnerung“ über die Suche nach dem Ich. Die Beschäftigung mit Themen der Neuropsychologie habe bei ihm zu der Erkenntnis geführt, dass unser Bewusstsein immer darauf beharre, eine verlässliche, eine sich ständig fortsetzende Geschichte zu erzählen, sagte Powers.
Auszüge aus dem Gespräch:

Liane von Billerbeck: „Wer seine Seele finden will, muss sie zuerst verlieren“, diesen Satz hat Richard Powers seinem neuen Buch „Das Echo der Erinnerung“ vorangestellt. Die Geschichte beginnt so: In einem kleinen Ort in Nebraska geschieht ein Unfall. Ganz in der Nähe sammeln sich jedes Frühjahr Hunderttausende Kraniche, über tausende von Meilen, landen sie pünktlich wie ein Uhrwerk, haben Weg und Zeit und Grund ihres Zuges in ihrer Erinnerung gespeichert. In der Nähe des Rastplatzes rast ein Auto auf dem Highway heran, überschlägt sich, es ertönt ein Schrei, dann noch einer. Die Kranichwolke erhebt sich kurz und senkt sich wieder. Für die Vögel hat sich – scheinbar – nichts durch den Unfall geändert, für den Mann in dem Auto jedoch alles. Schwer hirnverletzt verliert er seine Erinnerungen, sein ICH, seine Seele.

So fängt die Geschichte an, die uns Richard Powers in seinem Buch „Das Echo der Erinnerung.“ erzählt. Das verlorene ICH – darüber sprechen wir jetzt mit dem Autor. Die Hirnforschung ist für die Literatur fast schon ein Modethema. Wie sind Sie auf das Thema Ihres Buches gekommen, Herr Powers?

Richard Powers: Ich bin auf diese Themen der Neuropsychologie gestoßen, als ich einen Kurzfilm anschaute über einen jungen Mann, der durch einen Unfall, genau dieses Capgras-Syndrom erlitten hatte, also diese Unfähigkeit, bekannte Gesichter wiederzuentdecken. Das Capgras-Syndrom ist eine sehr seltene, aber beschriebene psychiaterische Störung, die darin besteht, dass derjenige, der sie erleidet, zwar noch die entfernten Angehörigen wie Freunde, Nachbarn wieder erkennt, aber die nächsten Angehörigen kann er nicht mehr als solche identifizieren. Das heißt, er wird vielleicht noch seine Eltern, Kinder oder Liebespartner wieder erkennen, aber er wird sie nicht mit dieser Identität erkennen, sondern er wird von der Vermutung ausgehen, das seien Betrüger, die in diese Rolle hineinschlüpfen. Man geht davon aus, dass viele Gehirnteile zusammenwirken müssen, um eine so nahen Angehörigen verlässlich wieder erkennen zu können. …

Von Billerbeck: Das Buch hat in der deutschen Übersetzung 533 Seiten, was wissen Sie jetzt über die grundlegende Frage, was ist das Ich?

Powers: Meine Hauptgestalt Mark erfährt, während er sein Bewusstsein aus dem Koma auftauchend wieder gewinnt, dieses Syndrom bei seiner Schwester. Er sagt, sie sieht aus wie meine Schwester, sie verhält sich wie meine Schwester, sie kleidet sich wie meine Schwester, aber er hält sie trotzdem für eine Betrügerin, die in diese Rolle hineingeschlüpft ist. Das Interessante ist, dass die gefühlsmäßigen Anteile des Gehirns offenbar so stark sind, dass sie die rationalen Funktionen überwältigen.

Was für uns da herauszuziehen ist, ist, dass auch wir uns ganz offensichtlich, wenn wir uns ein Bild von der Welt machen, uns eine Geschichte erzählen, eine Geschichte von dem, wie die Welt aufgebaut ist. Wenn auch nur ein Teil aus dieser Welterzählung heraus bricht, dann kann für uns plötzlich die ganze Welt merkwürdig und unvertraut erscheinen. Unser Bewusstsein beharrt immer darauf, eine ganz, eine verlässliche, eine sich ständig fortsetzende Geschichte zu erzählen. Aber in Wahrheit ist diese Geschichte alles andere, sie ist improvisiert, sie ist sehr flüchtig, sie springt hin und her. …

Von Billerbeck: Was hat die Suche nach dem, was das Ich ausmacht, bei Ihnen verändert? Haben Sie das Gefühl, dass Sie sich nach dem Roman näher oder rätselhafter sind?

Powers: Ich habe da vier, fünf, sechs Stunden am Tag verbracht mit dem Lesen von Fachliteratur über diese neuropsychologischen Forschungen. Ich habe versucht, eine Gestalt zu entwerfen, deren Welt sich vollständig verändert hat, aber die es als einzige nicht wahrhaben kann, dass die Welt sich so verändert hat. Und ich verspürte auch das Bedürfnis wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, ich ging dann vielleicht auf Partys, und wenn dann jemand zu mir kam und fragte, wer sind Sie eigentlich, dann konnte ich nicht so ohne weiteres eine Antwort geben.

Das gesamte Gespräch mit Richard Powers können Sie für begrenzte Zeit in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören.