Das verkürzte Selbst

05.09.2012
Wolfgang Hilbigs Hauptfigur verachtet sich selbst: Der ostdeutsche Schriftsteller hat sich an die Stasi verkauft, spitzelt seine Umgebung aus. In der Folge hält er seinen Namen nicht mehr für erwähnenswert, sein "Ich" schrumpft zu einem Kürzel zusammen.
Im Exposé zu seinem Roman "Ich" schreibt Wolfgang Hilbig, dass es ihn nur im ersten Moment überrascht hat, dass einige Schriftsteller auch Informanten der Staatssicherheit waren. Der Ich-Verlust des IM, der mit seiner Unterschrift seinen Namen an die Stasi verkauft und der Ich-Verlust des Schriftstellers, der sich "mehr als einmal vor die Frage gestellt sieht: wer oder was denkt in mir?", weisen seiner Meinung nach Ähnlichkeiten auf. Das Exposé zum Roman ist nun in "Ich" nachzulesen, dem fünften Band der auf sieben Bände konzipierten Wolfgang Hilbig Werkausgabe, die seit 2008 im S. Fischer Verlag erscheint.

Als der Roman 1993 zum ersten Mal erschien, waren die Nachbeben noch zu spüren, von denen die Literaturszene des Prenzlauer Berg erschüttert worden war, nachdem Wolf Biermann vom spiritus rector der Szene, Sascha Anderson, nur noch als Sascha "Arschloch" sprach. Der kruden Begriffswahl war eine Enttarnung vorausgegangen: Der Schriftsteller Sascha Anderson, der Kontakt zu vielen Autoren des Prenzlauer Berg hatte, war Stasispitzel.

Hilbigs Roman "Ich" handelt von einem in Ostberlin lebende Schriftsteller, der sich Ende der 80er Jahre an die Stasi verkauft. Die Anführungszeichen, von denen das titelgebende Wort "Ich" begrenzt wird, können als Schlüssel für die im Roman erzählte Geschichte angesehen werden. Von seinem eigentlichen Namen bleibt diesem Ich nur noch ein Rest. Er schrumpft auf die Abkürzung M. W. Seit er sich verpflichtet hat, für die Stasi als IM zu arbeiten, wird er unter dem Decknamen Cambert geführt.

Hilbig erzählt in "Ich", wie der Verlust des Namens verbunden ist mit einem Ich-Verlust, sodass es nicht mehr möglich ist, in der ersten Person zu sprechen. Spricht Cambert von sich, meint er einen anderen, der nicht mehr identisch ist mit seinem früheren Ich. Er zitiert sich und spricht von jemandem, den es nicht mehr gibt. Mit der Unterschrift hat sich M. W. verkauft. Er führt fortan nur noch eine Schattenexistenz, wenn er als IM den Schriftsteller "Reader", auf den er angesetzt ist, beschattet.

Deutlich wird in Hilbigs Roman der Bezug zu Adelbert von Chamissos Erzählung "Peter Schlemihls wundersame Geschichte", in der Schlemihl seinen Schatten an den Teufel verkauft und als Gegenwert ein Goldsäckchen erhält. Das Geld aber wiegt den Verlust des Schattens nicht auf, denn der Schatten, der ihm fehlt, lastet wie ein Schatten auf seiner Person. Schlemihl wird zu einem Anderen, weil er einen entscheidenden Teil seiner Person, der ihm auf allen Wegen gefolgt war, leichtsinnig veräußert hat. Wie Schlemihl, der den Wert seines Schattens missachtete, verachtet Cambert den Wert seines Namens.

Hilbig, dieser sprachmächtige Dichter der deutschsprachigen Literatur, stellt diesen IM, der glaubt, sich finden zu können, wenn er der Stasi dient, in eine unwirkliche Keller- und Höhlenwirklichkeit, die sich unterhalb der Stadt Berlin wie ein Myzel ausbreitet. Entstanden ist keine Anklage, sondern ein Roman, in dem das Schreiben eines der zentralen Themen ist. Ein grandioser Roman, der Hilbig auf der Höhe seiner Sprachkunst zeigt - eine hochwillkommene Wiederentdeckung im Rahmen der vorbildlich edierten Werkausgabe.

Besprochen von Michael Opitz

Wolfgang Hilbig: "Ich"
Werke Band V
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012
393 Seiten, 21,99 Euro
Mehr zum Thema