"Das Verhalten von Menschen auf das Böse zurückzuführen, ist eine Vereinfachung"
Der Autor Harald Welzer hat in einem Buch beschrieben, warum Menschen zu Tätern werden. Zum Massenmord des NS-Regimes sagte Welzer, innerhalb eines Bezugsrahmens der Ungleichheit sei der Schritt von der Ausgrenzung zur Tötung des Menschen kleiner als er heute wäre.
Liane von Billerbeck: Es waren eigentlich ganz normale Studenten, die da plötzlich zu Ungeheuern mutierten. Der Psychologe Philip Zimbardo will das vor über 30 Jahren in seinem später Stanford-Prison-Experiment genannten Versuch herausgefunden haben. Studenten wurden zu Wärtern und Häftlingen in einem fiktiven Gefängnis ernannt und verhielten sich entsprechend, und was das Unbegreiflichste war: Die Häftlinge, in Anführungsstrichen, begehrten nicht gegen die Ungerechtigkeit auf und waren auch untereinander nicht solidarisch. Der Sozialpsychologe Harald Welzer, der hat in einem Buch beschrieben, warum Menschen zu Tätern werden. Und wir wollen mit ihm auch die andere Seite beleuchten und wissen, warum wenige Menschen sich verweigern. Mit Harald Welzer bin ich jetzt in Hannover verbunden, ich grüße Sie!
Harald Welzer: Ja, guten Tag!
Von Billerbeck: Die Achse des Bösen, wie sie George Bush vor einigen Jahren nach dem 11. September genannt hat, die hat bei uns in Europa ein eher müdes Lächeln hervorgerufen. Inzwischen gibt es aber über das Thema "das Böse" viele Bücher. Woher rührt das Interesse?
Welzer: Na ja, wahrscheinlich rührt es aus dem gleichen Motiv, wie es in der Reagan’schen Formulierung von der Achse des Bösen zum Ausdruck kommt – wenn ich etwas als "das Böse" bezeichne, dann habe ich eine einfache Erklärung für etwas, was ich möglicherweise nicht verstehe oder was in Wirklichkeit komplizierter ist und mir deshalb Angst macht. Das heißt: Das Verhalten von Menschen oder Staaten auf das Böse zurückzuführen, ist eine Vereinfachung und macht das Leben leichter.
Von Billerbeck: Aber der Begriff taucht ja inzwischen nicht nur in der Alltagssprache und in der Politik auf, sondern wird auch von der Wissenschaft benutzt, und das sogar – man hat den Eindruck – ziemlich ungebrochen.
Welzer: Ja, aber Sie müssen halt auch sehen, dass Dinge, die in der Wissenschaft verwendet werden, auch immer Konjunkturen haben und bestimmten Moden unterliegen. Wir haben ja seit einigen Jahren schon intensivere Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Gewalt – was lange Zeit unglückseligerweise wenig der Fall gewesen ist, das kann man begrüßen, dass da jetzt mehr Forschung gemacht wird –, aber natürlich wird auch hier versucht oder gibt es unterschiedliche Ansätze, und ein Ansatz ist eben der, das auf etwas zurückzuführen, was im Menschen selber läge, was also quasi anthropologisch ist, ein Potenzial zum Bösen oder das Böse schlechthin. Das ist ein Ansatz, aber dem muss man nicht folgen.
Von Billerbeck: Sie haben von der Konjunktur gesprochen, die auch bestimmte wissenschaftliche Themen haben. Reagiert die quasi auf diese öffentliche Debatte?
Welzer: Es ist immer ein Wechselverhältnis, es ist sehr faszinierend zu sehen – das habe ich an meiner eigenen Arbeit auch schon erfahren –, dass man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt mit Themen beschäftigt, von denen man glaubt, da ist noch kein anderer drauf gekommen. Und wenn man dann soweit ist, darüber etwas zu sagen oder zu publizieren, merkt man, dass ganz viele Veröffentlichungen zu demselben Thema erscheinen. Also da liegt immer etwas in der Luft. Man reagiert als Kulturwissenschaftler, glaube ich, auch so seismographisch auf Stimmungsveränderungen oder auf gesellschaftliche Probleme, wie andere Leute das auch tun.
Von Billerbeck: Über das Böse wurden viele Bücher geschrieben, Sie haben eins geschrieben, dass viel gelobt wurde und das heißt "Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden". Wie groß oder klein ist denn der Schritt vom normalen Menschen zum menschlichen Ungeheuer?
Welzer: Na ja, ich würde den Begriff des Ungeheuers ja gar nicht verwenden, denn der wäre ja schon ein Widerspruch zu dem normalen Menschen. Ich würde immer so argumentieren, dass Menschen soziale Wesen sind, und solange sie sozial handeln, handeln sie im Rahmen von Potenzialitäten, das heißt, von Möglichkeiten. Und Menschen sind ziemlich frei, sich zu entscheiden und Dinge zu tun, insofern sind sie dazu frei, sich für Gutes zu entscheiden oder für Dinge zu entscheiden, die nach den jeweiligen gesellschaftlichen Maßstäben als böse betrachtet werden. Und der Schritt dazu ist dann je nach den Bedingungen, die vorherrschen, und je nach den Normen einer Kultur ausgesprochen gering, diese Grenze ist sehr schnell zu überschreiten.
Von Billerbeck: Das heißt also, es hängt von dem Bezugsrahmen ab, der sich möglicherweise verändert hat und auch die Maßstäbe verändert?
Welzer: Ja, wenn Sie zum Beispiel das sogenannte Dritte Reich nehmen und sehen, dass Sie es dort mit einer Gesellschaft zu tun haben, für die Ungleichheit und Ungleichwertigkeit von Menschen sozusagen zu den Kernüberzeugungen gehört, und dass diese Kernüberzeugung sich innerhalb weniger Jahre auch in der ganzen Gesellschaft bis zum letzten Volksgenossen hin verbreitet, dann haben Sie ein anderes Konzept, was legitim ist im Umgang mit Menschen, gegenüber dem Konzept, was wir heute favorisieren. Und innerhalb eines solchen Bezugsrahmens der Ungleichwertigkeit ist der Schritt von der Ausgrenzung zur Tötung von Menschen relativ geringer, als er heute wäre. Insofern muss man immer diesen Bezugsrahmen mit einrechnen.
Von Billerbeck: Obwohl der Weg ja so kurz ist, wie Sie das eben geschildert haben, wenn sich dieser Bezugsrahmen für das eigene Handeln drastisch verändert hat, so gab es ja doch einige wenige Menschen, die widerstehen konnten, manche spät, aber oft um den Preis des eigenen Lebens, wenn wir an die Attentäter des 20. Juli 1944 denken. Stellen wir also umgekehrt mal die Frage: Was hat diese Wenigen davon abgehalten, sich auch in diesem extrem veränderten Bezugsrahmen so zu verhalten?
Welzer: Das ist eine sehr gute und eine sehr spannende Frage, und wenn man sich mit der beschäftigt, stellt man verblüffend fest, dass es ausgerechnet dazu ziemlich wenig Forschung gibt. Wir haben jetzt seit einigen Jahren relativ viel Forschung tatsächlich zu der Frage, wie Menschen zu der Entscheidung kommen, andere Menschen zu töten oder sich eben gegenmenschlich zu verhalten. Wir haben erstaunlich wenig da drüber – obwohl das auch unter pädagogischen Gesichtspunkten natürlich viel wichtiger wäre – zu der Frage, wieso Menschen eigentlich in der Lage sind, innerhalb solcher Bezugsrahmen, die das gegenmenschliche Verhalten eigentlich fordern, sich doch, wie wir sagen würden, prosozial, also promenschlich zu verhalten. Und deshalb kann man gegenwärtig nur spekulieren, was das eigentlich ist. Meine Vermutung wäre, es ist viel weniger die Persönlichkeit oder die Biografie, also der gute Mensch, der hier als zentrales Erklärungsmoment ins Spiel kommt, sondern auch wieder ganz konkrete soziale Bedingungen oder auch soziale Bezugsrahmen. Das heißt, jemand, der sich dafür entscheidet, sich in so einer Zeit abweichend zu verhalten, indem er hilft, hat irgendeine Beziehung zum Opfer, eine konkrete oder eine abstrakte. Oder aber er hat etwas im Sinn, seine Ehefrau zu Hause oder seinen Vater oder sonst was, der praktisch mental dafür steht, dass er sagt, ich unterstütze dich, wenn du dich jetzt anders verhältst. Jemand, der so einen mentalen Referenzrahmen oder Bezugsrahmen nicht hat, wird sich eher darauf beziehen, was ihm gesagt wird oder was seine Kameraden tun.
Von Billerbeck: Eine Frage, die sich ja stellt, ist die, ob man das lernen kann, wie man sich in extremen Situationen verhält und wie man widersteht. Der Psychologe Philip Zimbardo, bekannt durch das Stanford-Experiment, hat dazu hier im Deutschlandradio Kultur Folgendes gesagt:
Philip Zimbardo: Dem Bösen zu widerstehen, ja, der Weg dahin, ist eben nur über mehr Menschen möglich, die Helden sind, die sich dem Bösen widersetzen. Die gegenüber ungerechten Autoritäten aufstehen und die sind selten, denn man zahlt ja immer einen Preis. Was sollen wir machen? Nun, wie müssen die Phantasie des Heldischen beflügeln, zum Beispiel mit Schulunterricht. Wir brauchen echten Unterricht! Ein Held zu seine, bedeutet darüber hinaus aber auch, Abweichler zu sein, denn man tut etwas gegen die Erwartungen. Das müssen wir einüben. Wie kann man ein guter Abweichler sein? Wie kann man sich der Mehrheit widersetzen? Wie kann man eine klare Position ergreifen, in der Gesellschaft, in der Politik. Wenn man das einübt, dann wird man gerüstet sein, wenn dann der Augenblick kommt. Dann hat man diese sittliche Kraft, dem Gruppenzwang sich zu widersetzen.
Von Billerbeck: Der Psychologe Philip Zimbardo war das, Herr Welzer, lässt sich Abweichlertum lernen?
Welzer: Ich glaube kaum, weil das ja auch ein Widerspruch in sich selber ist. Menschen sind nun mal soziale Wesen und wir sind in viel, viel höherem Maße, als wir das selber glauben möchten und uns selber zuschreiben würden, davon abhängig und daran orientiert, was andere tun, insbesondere dann, wenn wir Mitglied einer Gruppe sind und insbesondere dann noch mal, wenn wir gerne Mitglied dieser Gruppe sind. Insofern teilt man ja auch die Perspektiven der Gruppe, zu der man gehört, und insofern ist es geradezu paradox zu sagen: Man muss sich dann abweichend verhalten, obwohl die Gruppe ganz anders ist. Und als pure Forderung ist es – Entschuldigung, wenn ich es so einfach sage – eigentlich Kokolores, weil das ist so was Ähnliches wie die Aufforderung "Sei spontan", oder so. Da muss man schon anders rangehen und sich überlegen, wo denn eigentlich ganz konkrete Ansatzpunkte sind, wo so etwas wie Bewusstsein oder aufmerksame Wahrnehmung registrieren könnte, Moment mal, hier läuft was falsch, und hier muss ich jetzt etwas tun. Ich will nicht dagegen sagen, dass man bestimmte Verhaltensweisen, die zur Zivilcourage möglicherweise erforderlich sind, dass man die auch im Schulunterricht oder so was fördern sollte, aber Menschen zu Helden machen zu wollen, ist ja insofern auch fatal, weil es die Schüler, an die sich so was richtet, natürlich völlig überfordert. Wer kann denn schon ein Held sein? Und wenn ich so eine Forderung aufstelle, dann mache ich die Leute ja ganz klein, die dann an bestimmten Stellen es nicht schaffen, sich heldenhaft zu verhalten. Es ist eine komplette Überforderung. Und der dritte Punkt dazu wäre, das ist jetzt auch nur eine spontane Überlegung: Wir haben natürlich in Deutschland eine Zeit gehabt, wo Schulen versucht haben, ihre Schüler zu Helden zu machen, und wohin das geführt hat, war nun auch nicht gerade besonders vielversprechend.
Von Billerbeck: So etwas wie Pflichtgefühl, das habe ich ja auch bei Ihnen gelesen, das ist ja auch eine Eigenschaft, die in großen Unternehmen und auch modernen Demokratien der heutigen Zeit sehr gefragt ist. Wir alle wissen, wie oft wir funktionieren und auch, wie oft wir zu sehr funktionieren müssen. Wo verläuft denn nun die Grenze zwischen Pflichtgefühl und Gehorsam bis zur tödlichen Konsequenz?
Welzer: Ja, das ist eben das Problem, dass man diese Grenze nicht genau festlegen kann. Die wichtige Kategorie hierbei ist immer die Kategorie der Entscheidung. Menschen tun nichts automatisch, Menschen tun nichts als Roboter, sondern in jeder Alltagssituation, auch in jeder Extremsituation, treffen wir Entscheidungen. Und das Problem besteht da drin, dass Menschen sich auch häufig selbst überzeugen können, etwas gegen ein besseres Wissen oder ein besseres moralisches Bewusstsein zu tun. Sie erklären sich das dann hinterher, nachdem es passiert ist, weshalb sie es tun mussten, weshalb es jetzt nicht so schlimm gewesen ist, weshalb man, wenn man selber gegen Moral verstößt, es nicht so schlimm ist, wie wenn andere das machen. Aber in den Entscheidungssituationen selber spielen die unmittelbaren Bedingungen eine viel größere Rolle. Deshalb ertappt man sich manchmal auch dabei, dass man sich nach den eigenen Maßstäben falsch verhalten hat, und was das Frustrierende ist: Man hat immer unheimlich gute Gründe dafür, sich hinterher zu sagen, weshalb man das jetzt so machen müsste und weshalb man dann vor den eigenen Augen überhaupt nicht als schlechter oder böser Mensch dastehen muss. Insofern haben wir es bei den Tätern, die wir dann gerne als Bestien oder sonst was bezeichnen, immer auch mit Personen zu tun, die selber Schwierigkeiten hatten, über diese Grenze hinauszugehen, aber hinterher damit leben konnten. Und das ist das Problem, was wir eigentlich haben.
Von Billerbeck: Über das Böse in uns und die Möglichkeiten zu widerstehen sprachen wir mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer. Ich danke Ihnen!
Welzer: Bitteschön!
Von Billerbeck: Und falls Sie sein Buch noch mal nachlesen wollen, hier noch mal der genaue Titel: "Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden".
Harald Welzer: Ja, guten Tag!
Von Billerbeck: Die Achse des Bösen, wie sie George Bush vor einigen Jahren nach dem 11. September genannt hat, die hat bei uns in Europa ein eher müdes Lächeln hervorgerufen. Inzwischen gibt es aber über das Thema "das Böse" viele Bücher. Woher rührt das Interesse?
Welzer: Na ja, wahrscheinlich rührt es aus dem gleichen Motiv, wie es in der Reagan’schen Formulierung von der Achse des Bösen zum Ausdruck kommt – wenn ich etwas als "das Böse" bezeichne, dann habe ich eine einfache Erklärung für etwas, was ich möglicherweise nicht verstehe oder was in Wirklichkeit komplizierter ist und mir deshalb Angst macht. Das heißt: Das Verhalten von Menschen oder Staaten auf das Böse zurückzuführen, ist eine Vereinfachung und macht das Leben leichter.
Von Billerbeck: Aber der Begriff taucht ja inzwischen nicht nur in der Alltagssprache und in der Politik auf, sondern wird auch von der Wissenschaft benutzt, und das sogar – man hat den Eindruck – ziemlich ungebrochen.
Welzer: Ja, aber Sie müssen halt auch sehen, dass Dinge, die in der Wissenschaft verwendet werden, auch immer Konjunkturen haben und bestimmten Moden unterliegen. Wir haben ja seit einigen Jahren schon intensivere Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Gewalt – was lange Zeit unglückseligerweise wenig der Fall gewesen ist, das kann man begrüßen, dass da jetzt mehr Forschung gemacht wird –, aber natürlich wird auch hier versucht oder gibt es unterschiedliche Ansätze, und ein Ansatz ist eben der, das auf etwas zurückzuführen, was im Menschen selber läge, was also quasi anthropologisch ist, ein Potenzial zum Bösen oder das Böse schlechthin. Das ist ein Ansatz, aber dem muss man nicht folgen.
Von Billerbeck: Sie haben von der Konjunktur gesprochen, die auch bestimmte wissenschaftliche Themen haben. Reagiert die quasi auf diese öffentliche Debatte?
Welzer: Es ist immer ein Wechselverhältnis, es ist sehr faszinierend zu sehen – das habe ich an meiner eigenen Arbeit auch schon erfahren –, dass man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt mit Themen beschäftigt, von denen man glaubt, da ist noch kein anderer drauf gekommen. Und wenn man dann soweit ist, darüber etwas zu sagen oder zu publizieren, merkt man, dass ganz viele Veröffentlichungen zu demselben Thema erscheinen. Also da liegt immer etwas in der Luft. Man reagiert als Kulturwissenschaftler, glaube ich, auch so seismographisch auf Stimmungsveränderungen oder auf gesellschaftliche Probleme, wie andere Leute das auch tun.
Von Billerbeck: Über das Böse wurden viele Bücher geschrieben, Sie haben eins geschrieben, dass viel gelobt wurde und das heißt "Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden". Wie groß oder klein ist denn der Schritt vom normalen Menschen zum menschlichen Ungeheuer?
Welzer: Na ja, ich würde den Begriff des Ungeheuers ja gar nicht verwenden, denn der wäre ja schon ein Widerspruch zu dem normalen Menschen. Ich würde immer so argumentieren, dass Menschen soziale Wesen sind, und solange sie sozial handeln, handeln sie im Rahmen von Potenzialitäten, das heißt, von Möglichkeiten. Und Menschen sind ziemlich frei, sich zu entscheiden und Dinge zu tun, insofern sind sie dazu frei, sich für Gutes zu entscheiden oder für Dinge zu entscheiden, die nach den jeweiligen gesellschaftlichen Maßstäben als böse betrachtet werden. Und der Schritt dazu ist dann je nach den Bedingungen, die vorherrschen, und je nach den Normen einer Kultur ausgesprochen gering, diese Grenze ist sehr schnell zu überschreiten.
Von Billerbeck: Das heißt also, es hängt von dem Bezugsrahmen ab, der sich möglicherweise verändert hat und auch die Maßstäbe verändert?
Welzer: Ja, wenn Sie zum Beispiel das sogenannte Dritte Reich nehmen und sehen, dass Sie es dort mit einer Gesellschaft zu tun haben, für die Ungleichheit und Ungleichwertigkeit von Menschen sozusagen zu den Kernüberzeugungen gehört, und dass diese Kernüberzeugung sich innerhalb weniger Jahre auch in der ganzen Gesellschaft bis zum letzten Volksgenossen hin verbreitet, dann haben Sie ein anderes Konzept, was legitim ist im Umgang mit Menschen, gegenüber dem Konzept, was wir heute favorisieren. Und innerhalb eines solchen Bezugsrahmens der Ungleichwertigkeit ist der Schritt von der Ausgrenzung zur Tötung von Menschen relativ geringer, als er heute wäre. Insofern muss man immer diesen Bezugsrahmen mit einrechnen.
Von Billerbeck: Obwohl der Weg ja so kurz ist, wie Sie das eben geschildert haben, wenn sich dieser Bezugsrahmen für das eigene Handeln drastisch verändert hat, so gab es ja doch einige wenige Menschen, die widerstehen konnten, manche spät, aber oft um den Preis des eigenen Lebens, wenn wir an die Attentäter des 20. Juli 1944 denken. Stellen wir also umgekehrt mal die Frage: Was hat diese Wenigen davon abgehalten, sich auch in diesem extrem veränderten Bezugsrahmen so zu verhalten?
Welzer: Das ist eine sehr gute und eine sehr spannende Frage, und wenn man sich mit der beschäftigt, stellt man verblüffend fest, dass es ausgerechnet dazu ziemlich wenig Forschung gibt. Wir haben jetzt seit einigen Jahren relativ viel Forschung tatsächlich zu der Frage, wie Menschen zu der Entscheidung kommen, andere Menschen zu töten oder sich eben gegenmenschlich zu verhalten. Wir haben erstaunlich wenig da drüber – obwohl das auch unter pädagogischen Gesichtspunkten natürlich viel wichtiger wäre – zu der Frage, wieso Menschen eigentlich in der Lage sind, innerhalb solcher Bezugsrahmen, die das gegenmenschliche Verhalten eigentlich fordern, sich doch, wie wir sagen würden, prosozial, also promenschlich zu verhalten. Und deshalb kann man gegenwärtig nur spekulieren, was das eigentlich ist. Meine Vermutung wäre, es ist viel weniger die Persönlichkeit oder die Biografie, also der gute Mensch, der hier als zentrales Erklärungsmoment ins Spiel kommt, sondern auch wieder ganz konkrete soziale Bedingungen oder auch soziale Bezugsrahmen. Das heißt, jemand, der sich dafür entscheidet, sich in so einer Zeit abweichend zu verhalten, indem er hilft, hat irgendeine Beziehung zum Opfer, eine konkrete oder eine abstrakte. Oder aber er hat etwas im Sinn, seine Ehefrau zu Hause oder seinen Vater oder sonst was, der praktisch mental dafür steht, dass er sagt, ich unterstütze dich, wenn du dich jetzt anders verhältst. Jemand, der so einen mentalen Referenzrahmen oder Bezugsrahmen nicht hat, wird sich eher darauf beziehen, was ihm gesagt wird oder was seine Kameraden tun.
Von Billerbeck: Eine Frage, die sich ja stellt, ist die, ob man das lernen kann, wie man sich in extremen Situationen verhält und wie man widersteht. Der Psychologe Philip Zimbardo, bekannt durch das Stanford-Experiment, hat dazu hier im Deutschlandradio Kultur Folgendes gesagt:
Philip Zimbardo: Dem Bösen zu widerstehen, ja, der Weg dahin, ist eben nur über mehr Menschen möglich, die Helden sind, die sich dem Bösen widersetzen. Die gegenüber ungerechten Autoritäten aufstehen und die sind selten, denn man zahlt ja immer einen Preis. Was sollen wir machen? Nun, wie müssen die Phantasie des Heldischen beflügeln, zum Beispiel mit Schulunterricht. Wir brauchen echten Unterricht! Ein Held zu seine, bedeutet darüber hinaus aber auch, Abweichler zu sein, denn man tut etwas gegen die Erwartungen. Das müssen wir einüben. Wie kann man ein guter Abweichler sein? Wie kann man sich der Mehrheit widersetzen? Wie kann man eine klare Position ergreifen, in der Gesellschaft, in der Politik. Wenn man das einübt, dann wird man gerüstet sein, wenn dann der Augenblick kommt. Dann hat man diese sittliche Kraft, dem Gruppenzwang sich zu widersetzen.
Von Billerbeck: Der Psychologe Philip Zimbardo war das, Herr Welzer, lässt sich Abweichlertum lernen?
Welzer: Ich glaube kaum, weil das ja auch ein Widerspruch in sich selber ist. Menschen sind nun mal soziale Wesen und wir sind in viel, viel höherem Maße, als wir das selber glauben möchten und uns selber zuschreiben würden, davon abhängig und daran orientiert, was andere tun, insbesondere dann, wenn wir Mitglied einer Gruppe sind und insbesondere dann noch mal, wenn wir gerne Mitglied dieser Gruppe sind. Insofern teilt man ja auch die Perspektiven der Gruppe, zu der man gehört, und insofern ist es geradezu paradox zu sagen: Man muss sich dann abweichend verhalten, obwohl die Gruppe ganz anders ist. Und als pure Forderung ist es – Entschuldigung, wenn ich es so einfach sage – eigentlich Kokolores, weil das ist so was Ähnliches wie die Aufforderung "Sei spontan", oder so. Da muss man schon anders rangehen und sich überlegen, wo denn eigentlich ganz konkrete Ansatzpunkte sind, wo so etwas wie Bewusstsein oder aufmerksame Wahrnehmung registrieren könnte, Moment mal, hier läuft was falsch, und hier muss ich jetzt etwas tun. Ich will nicht dagegen sagen, dass man bestimmte Verhaltensweisen, die zur Zivilcourage möglicherweise erforderlich sind, dass man die auch im Schulunterricht oder so was fördern sollte, aber Menschen zu Helden machen zu wollen, ist ja insofern auch fatal, weil es die Schüler, an die sich so was richtet, natürlich völlig überfordert. Wer kann denn schon ein Held sein? Und wenn ich so eine Forderung aufstelle, dann mache ich die Leute ja ganz klein, die dann an bestimmten Stellen es nicht schaffen, sich heldenhaft zu verhalten. Es ist eine komplette Überforderung. Und der dritte Punkt dazu wäre, das ist jetzt auch nur eine spontane Überlegung: Wir haben natürlich in Deutschland eine Zeit gehabt, wo Schulen versucht haben, ihre Schüler zu Helden zu machen, und wohin das geführt hat, war nun auch nicht gerade besonders vielversprechend.
Von Billerbeck: So etwas wie Pflichtgefühl, das habe ich ja auch bei Ihnen gelesen, das ist ja auch eine Eigenschaft, die in großen Unternehmen und auch modernen Demokratien der heutigen Zeit sehr gefragt ist. Wir alle wissen, wie oft wir funktionieren und auch, wie oft wir zu sehr funktionieren müssen. Wo verläuft denn nun die Grenze zwischen Pflichtgefühl und Gehorsam bis zur tödlichen Konsequenz?
Welzer: Ja, das ist eben das Problem, dass man diese Grenze nicht genau festlegen kann. Die wichtige Kategorie hierbei ist immer die Kategorie der Entscheidung. Menschen tun nichts automatisch, Menschen tun nichts als Roboter, sondern in jeder Alltagssituation, auch in jeder Extremsituation, treffen wir Entscheidungen. Und das Problem besteht da drin, dass Menschen sich auch häufig selbst überzeugen können, etwas gegen ein besseres Wissen oder ein besseres moralisches Bewusstsein zu tun. Sie erklären sich das dann hinterher, nachdem es passiert ist, weshalb sie es tun mussten, weshalb es jetzt nicht so schlimm gewesen ist, weshalb man, wenn man selber gegen Moral verstößt, es nicht so schlimm ist, wie wenn andere das machen. Aber in den Entscheidungssituationen selber spielen die unmittelbaren Bedingungen eine viel größere Rolle. Deshalb ertappt man sich manchmal auch dabei, dass man sich nach den eigenen Maßstäben falsch verhalten hat, und was das Frustrierende ist: Man hat immer unheimlich gute Gründe dafür, sich hinterher zu sagen, weshalb man das jetzt so machen müsste und weshalb man dann vor den eigenen Augen überhaupt nicht als schlechter oder böser Mensch dastehen muss. Insofern haben wir es bei den Tätern, die wir dann gerne als Bestien oder sonst was bezeichnen, immer auch mit Personen zu tun, die selber Schwierigkeiten hatten, über diese Grenze hinauszugehen, aber hinterher damit leben konnten. Und das ist das Problem, was wir eigentlich haben.
Von Billerbeck: Über das Böse in uns und die Möglichkeiten zu widerstehen sprachen wir mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer. Ich danke Ihnen!
Welzer: Bitteschön!
Von Billerbeck: Und falls Sie sein Buch noch mal nachlesen wollen, hier noch mal der genaue Titel: "Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden".