Das vergessene Osteuropa
Neulich, kurz vor Weihnachten, haben wir ausnahmsweise einmal freundliche Nachrichten von unseren östlichen Nachbarn gehört. Europa ist nun von der Ostsee bis zur Südspitze Portugals grenzenlos. Polen und Tschechen, Ungarn und Slowenen, Esten, Letten und Litauer können nun quer durch den Kontinent reisen. Sie benötigen nicht einmal mehr einen Pass dazu. Wirkliche Reisefreiheit, über 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg: die Sehnsucht von Generationen. Bei uns war der Jubel eher gering.
"Bild", das Zentralorgan für die Ängste der Bürger, begrüßte die Nachbarn dann auch standesgemäß: "Wird es einen Anstieg der Kriminalität geben? Kommen mehr Prostituierte aus dem Ex-Ostblock zu uns? Wird der Menschenschmuggel ein noch größeres Problem? Kommen mehr Billiglöhner aus dem Osten zu uns?"
Nur, dass insgesamt 400 Millionen Europäer nun frei reisen können - wir nämlich auch - das sah "Bild" dann allerdings als Vorteil. Hatten wir nicht bereits 1975 in Helsinki bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Reisefreiheit für die Menschen im Osten gefordert und von Honecker und Co. unterschreiben lassen?
Und weil sich die Herren nicht an ihr Wort gehalten haben, sondern Mauer und Eisernen Vorhang stehen ließen, haben Ungarn und Polen, DDR-Deutsche und Tschechen sich vor 18 Jahren frei gemacht, sie waren so frei. Damals waren Berichte aus den Diktaturen der Arbeiterklassen Osteuropas für viele Leser und Zuschauer im Westen so aufregend wie nie zuvor.
Eigentlich galt das Interesse der Bundesbürger Paris und Palermo und nicht Pritzwalk oder Pasewalk. Dann aber Beifall und Bewunderung für den tapferen Kampf der polnischen Solidarnosc, Solidarität mit den Rumänen, die sich nur durch einen blutigen Umsturz von ihrem Tyrannen Ceausescu hatten befreien können, Sympathie und Anerkennung für die Gewaltlosigkeit der tschechischen "Samtenen Revolution", Staunen und Dankbarkeit für den Mut der Ungarn, die gegen alle Verträge mit Ost-Berlin einfach den Eisernen Vorhang wegräumten, auf eigenes Risiko.
Schon damals, als die Ungarn den Stacheldraht bei Hegyeshalom an der Grenze zu Österreich zerschnitten und damit den Weg für DDR-Flüchtlinge frei machten, zitierte der "Spiegel" die Sorge, "ein verstärkter Flüchtlingsstrom könnte ja an unserem Wohlstand kratzen". Und der Flüchtlingsstrom kam und brachte den Deutschen ganz neue Probleme, aber letzten Endes die Einheit. Und dann hörten wir lange Zeit nur noch vom Ossi-Wessi-Ehekrach, von Stasi-Akten, zu vielen Arbeitslosen und von der PDS. Oder von "blühenden Landschaften", die zwar blühen aber meist ohne Ernteerträge sind. Die Menschen im Westen wandten sich wieder ihren vertrauten Zielen zwischen Gran Canaria und New York zu.
Zu Zeiten des Kommunismus erregten Armut und Mangelwirtschaft, Unterdrückung und freudloser Alltag im Osten das Mitleid der Wohlstandsbürger in der Bundesrepublik. Heute haben die Negativklischees ein anderes Gesicht. Kriminalität, Drogen- und Menschenhandel, Billiglohn-Konkurrenz. Paris steht für den Autosalon - Polen für den Autoklau. In England gibt es Königskinder - in Rumänien Straßenkinder. Westeuropa steht für Schönheitswettbewerb - Osteuropa für Prostitution im Transitverkehr.
Polen hatte in unseren Medien zuletzt Konjunktur, doch eigentlich nur wegen der schwer erträglichen Kaczynski-Zwillinge. Wenig wissen wir von Freud, viel hingegen vom Leid unserer alten neuen Nachbarn. Immer wieder gibt es filmische Mehrteiler mit sentimentalen Streifzügen durch verlorenes, einst deutsches Land. Aber Dokumentarfilme über die Erfolge des mühsamen Umbaus in Osteuropa 18 Jahre nach der Wende sind eine Rarität.
Wenig wissen wir von dem wachsenden Selbstbewusstsein der Aufbaugeneration, die aus eigener Kraft schon vieles hat neu machen können, Straßen, Versorgung, Industrie, auch ohne die Billionen einer Bundesbank, gar nicht zu reden vom schwierigen Einüben der Demokratie.
"Bild" bedient den Stammtisch nicht mit solchen Erfolgen, sondern nennt Zahlen von Straftaten, die bei Kontrollen an den Grenzen zu Sachsen und Brandenburg entdeckt worden sind: Unerlaubte Einreisen, tausende Kilo Rauschgift, Autodiebstahl und illegale Waffeneinfuhr. Das ist eine, aber nicht einmal die halbe Wahrheit.
Scheint es doch so: Je näher wir uns gekommen sind, desto fremder sind wir uns geworden. Es ist erstaunlich, wie viele junge Leute in unseren östlichen Nachbarländern die deutsche Sprache lernen und wie wenig Polnisch, Tschechisch oder Ungarisch in deutschen Schulen angeboten wird. Da wächst - nach den Billiglöhnern - die wahre Konkurrenz der Zukunft heran. In Zeiten der Globalisierung schaut man eher nach Indien, China oder USA als zu den so wenig bekannten Nachbarn vor der eigenen Tür.
Joachim Jauer, Journalist, geboren 1940 in Berlin, Studium der klassischen Philologie, Philosophie und Geschichte in Berlin, Redakteur beim RIAS, Hochschul-Dozent, Leiter des ZDF-Büros in der DDR und dann der ZDF-Redaktion "Kennzeichen D", Studioleiter in Bonn, Wien, Sonderkorrespondent für Ost-Europa und schließlich in Berlin, Autor von Fernseh-Dokumentationen; viele Auszeichnungen.
Nur, dass insgesamt 400 Millionen Europäer nun frei reisen können - wir nämlich auch - das sah "Bild" dann allerdings als Vorteil. Hatten wir nicht bereits 1975 in Helsinki bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Reisefreiheit für die Menschen im Osten gefordert und von Honecker und Co. unterschreiben lassen?
Und weil sich die Herren nicht an ihr Wort gehalten haben, sondern Mauer und Eisernen Vorhang stehen ließen, haben Ungarn und Polen, DDR-Deutsche und Tschechen sich vor 18 Jahren frei gemacht, sie waren so frei. Damals waren Berichte aus den Diktaturen der Arbeiterklassen Osteuropas für viele Leser und Zuschauer im Westen so aufregend wie nie zuvor.
Eigentlich galt das Interesse der Bundesbürger Paris und Palermo und nicht Pritzwalk oder Pasewalk. Dann aber Beifall und Bewunderung für den tapferen Kampf der polnischen Solidarnosc, Solidarität mit den Rumänen, die sich nur durch einen blutigen Umsturz von ihrem Tyrannen Ceausescu hatten befreien können, Sympathie und Anerkennung für die Gewaltlosigkeit der tschechischen "Samtenen Revolution", Staunen und Dankbarkeit für den Mut der Ungarn, die gegen alle Verträge mit Ost-Berlin einfach den Eisernen Vorhang wegräumten, auf eigenes Risiko.
Schon damals, als die Ungarn den Stacheldraht bei Hegyeshalom an der Grenze zu Österreich zerschnitten und damit den Weg für DDR-Flüchtlinge frei machten, zitierte der "Spiegel" die Sorge, "ein verstärkter Flüchtlingsstrom könnte ja an unserem Wohlstand kratzen". Und der Flüchtlingsstrom kam und brachte den Deutschen ganz neue Probleme, aber letzten Endes die Einheit. Und dann hörten wir lange Zeit nur noch vom Ossi-Wessi-Ehekrach, von Stasi-Akten, zu vielen Arbeitslosen und von der PDS. Oder von "blühenden Landschaften", die zwar blühen aber meist ohne Ernteerträge sind. Die Menschen im Westen wandten sich wieder ihren vertrauten Zielen zwischen Gran Canaria und New York zu.
Zu Zeiten des Kommunismus erregten Armut und Mangelwirtschaft, Unterdrückung und freudloser Alltag im Osten das Mitleid der Wohlstandsbürger in der Bundesrepublik. Heute haben die Negativklischees ein anderes Gesicht. Kriminalität, Drogen- und Menschenhandel, Billiglohn-Konkurrenz. Paris steht für den Autosalon - Polen für den Autoklau. In England gibt es Königskinder - in Rumänien Straßenkinder. Westeuropa steht für Schönheitswettbewerb - Osteuropa für Prostitution im Transitverkehr.
Polen hatte in unseren Medien zuletzt Konjunktur, doch eigentlich nur wegen der schwer erträglichen Kaczynski-Zwillinge. Wenig wissen wir von Freud, viel hingegen vom Leid unserer alten neuen Nachbarn. Immer wieder gibt es filmische Mehrteiler mit sentimentalen Streifzügen durch verlorenes, einst deutsches Land. Aber Dokumentarfilme über die Erfolge des mühsamen Umbaus in Osteuropa 18 Jahre nach der Wende sind eine Rarität.
Wenig wissen wir von dem wachsenden Selbstbewusstsein der Aufbaugeneration, die aus eigener Kraft schon vieles hat neu machen können, Straßen, Versorgung, Industrie, auch ohne die Billionen einer Bundesbank, gar nicht zu reden vom schwierigen Einüben der Demokratie.
"Bild" bedient den Stammtisch nicht mit solchen Erfolgen, sondern nennt Zahlen von Straftaten, die bei Kontrollen an den Grenzen zu Sachsen und Brandenburg entdeckt worden sind: Unerlaubte Einreisen, tausende Kilo Rauschgift, Autodiebstahl und illegale Waffeneinfuhr. Das ist eine, aber nicht einmal die halbe Wahrheit.
Scheint es doch so: Je näher wir uns gekommen sind, desto fremder sind wir uns geworden. Es ist erstaunlich, wie viele junge Leute in unseren östlichen Nachbarländern die deutsche Sprache lernen und wie wenig Polnisch, Tschechisch oder Ungarisch in deutschen Schulen angeboten wird. Da wächst - nach den Billiglöhnern - die wahre Konkurrenz der Zukunft heran. In Zeiten der Globalisierung schaut man eher nach Indien, China oder USA als zu den so wenig bekannten Nachbarn vor der eigenen Tür.
Joachim Jauer, Journalist, geboren 1940 in Berlin, Studium der klassischen Philologie, Philosophie und Geschichte in Berlin, Redakteur beim RIAS, Hochschul-Dozent, Leiter des ZDF-Büros in der DDR und dann der ZDF-Redaktion "Kennzeichen D", Studioleiter in Bonn, Wien, Sonderkorrespondent für Ost-Europa und schließlich in Berlin, Autor von Fernseh-Dokumentationen; viele Auszeichnungen.