Das verachtete Volk

12.11.2011
Das Bild vom "zivilisationsfernen, schmutzigen Zigeuner" sei nie aus Europa verschwunden, meint der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal. Sein Buch über die literarische Rezeption der Sinti und Roma vom Spätmittelalter bis heute hat das Zeug zu einem Standardwerk.
Wer sagt denn noch "Zigeuner"? Im Stillen wir alle, behauptet Klaus-Michael Bogdal, auch wenn wir politisch korrekt von "Sinti und Roma" oder "Romvölkern" sprechen. Denn hinter dieser Bezeichnung steht mehr als nur ein etymologisch schwer herzuleitender Begriff. "Zigeuner", das klingt nach Lagerfeuer und Operette, nach Wagenburg und Asozialem. Was aussieht wie ein Gegensatz, das Faszinierende und das Verächtliche, mit Angst gepaart, gehört in Wahrheit zusammen. Hinter der Bezeichnung, die so schillernd, unscharf und vielfach deutbar ist, verbirgt sich nämlich, so Bogdals These, eine Art zählebiges kulturelles Abwehrprogramm.

Die Romvölker aus Indien, die im Spätmittelalter in nahezu jeden Landstrich Europas des Kontinents einwanderten, sah man ihrer nomadischen Lebensweise wegen als Vorhut der kriegerischen Mongolen an, als existentielle Bedrohung. Im Gegensatz zu den Mongolen waren sie friedfertig, und sie blieben. Warum aber wurden sie nicht geduldet, wie ist es gekommen, dass ein Zusammenleben undenkbar erschien, bis heute? Im Europa an der Schwelle zur Neuzeit waren sie - ein schriftloses Volk, das sich den gesellschaftlichen Umbrüchen entzog - nicht kompatibel. Als "Strandgut aus einer vergangenen Zeit am Ufer der Moderne" wurden sie ausgegrenzt und verfolgt. Und es wurde das Bild vom Zigeuner erfunden: geschichtslos, kulturlos, wild.

Um dessen Geschichte in Europa zum ersten Mal zu erzählen, hat Bogdal, Bielefelder Professor für Literatur, eine Überfülle an Material zutage gefördert, vom Spätmittelalter bis heute, quer durch Europa, von Norwegen bis Italien: Chroniken, Urkunden, ethnographische Dokumente, Rechtsepisteln. Vor allem aber literarische Texte, die Bogdal als Fallbeispiele liest, wie das verachtete Volk im Abseits gehalten wird. Auch wenn die reale Situation der Roma immer wieder herangezogen wird, um die phantastischen Auswüchse der literarischen Zeugnisse zu konterkarieren, so ist das Buch doch keine Geschichte der Romvölker. Es geht vielmehr um die "Kulturträger", um Schriftsteller, Gelehrte, Wissenschaftler und deren "zivilisatorischen Hochmut". Wie daraus die seit sechshundert Jahren gültigen Zerrbilder entstehen, vom Zigeuner als Lügner, Lump, Dieb, Mädchenhändler. Erhellend sind die Vergleiche mit dem Antisemitismus: Zum Beispiel fällt das Licht der Aufklärung im Namen Lessings auf den Juden Nathan - auf Zigeunerfiguren fällt es nicht.

Dass die Geschichte der Verachtung nach 1945 keineswegs endete, weist Bogdal an literarischen Beispielen aus der Nachkriegszeit nach. Da machen auch Autoren, die nicht unter dem Verdacht stehen, Randgruppen zu diskriminieren, wie Günter Grass oder Herta Müller, keine gute Figur. Und wenn selbst Marlene Dietrich, die sich als Antifaschistin verstand, eine heroische Zigeunerin (im Film "Goldene Ohrringe",1946) als rüde und ordinäre Figur anlegt, zeigt das, wie tief die Vorstellung von den zivilisationsfernen, schmutzigen Zigeunern ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt ist. Während der Gebrauch von offen antisemitischen Redeweisen nach 1945 in der Öffentlichkeit vermieden wird, erfährt das Bild der Roma keinerlei Umwertung. Erst in den vergangenen zwanzig Jahren zeichnet die Literatur sie in realistischeren Konturen.

Gelegentlich etwas zu detailverliebt, ist die profunde Studie eine spannend zu lesende Tour de Force durch ein unbekanntes Feld der Geschichte. Auf jeden Fall hat sie das Zeug zu einem Standardwerk.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner
Eine Geschichte von Faszination und Verachtung
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2011
592 Seiten, 24,90 Euro
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