Das Unglück der Kolonialisierten

Der tasmanische Autor Richard Flanagan war in Deutschland bislang eher unbekannt, obwohl die Verfilmung seines Buches „Am Anfang der Erinnerung“ sogar für den Goldenen Bären nominiert war. In „Mathinna“ schildert er die Verwerfungen des Kolonialismus am Beispiel eines Aboriginie-Mädchens, das erst vom Gouverneur Australiens, Sir John Franklin, adoptiert, später verstoßen wurde und im Waisenhaus landete.
„Liebe ist nicht genug, aber sie ist alles, was wir haben. ... Die Luft war mild, er trank sie wie Wasser an einem heißen Tag.“

Richard Flanagan, Jahrgang 1961 – Australier von der Insel Tasmanien, mit 16 „run-away“, später Studium der Geschichte in Oxford – ist ein leidenschaftlicher Wildwasserkanute und ein multitalentierter Star der australischen Literatur und Medienszene, als Sachbuch- und Drehbuchautor, Regisseur, kritischer Journalist und vor allem auch als Romancier. Flanagans vier bisherige Romane wurden mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet.

1994 erschien der Roman „Am Anfang der Erinnerung“ (dt. 1998), als Film 1998 auf der Berlinale für den Goldenen Bären als Bester Film nominiert, Drehbuch und Regie: Richard Flanagan. 2001 erschien „Goulds Buch der Fische – ein Roman in 12 Fischen“ (dt. 2002).Und nach seinem letzten Roman „The Unknown Terrorist“ – leider nicht auf Deutsch erschienen – nannte ihn die Chicago Tribune „ein Genie“. Flanagans neuer, also fünfter Roman trägt den englischen Titel „Wanting“, sein deutscher Titel ist „Mathinna“.

Mathinna ist der Name eines kleinen Mädchens, das es tatsächlich gab, eine historische Figur also; ein zeitgenössisches Ölportrait findet sich im Internet. Mathinna wurde 1832 geboren und starb, als sie 17 Jahre alt war. Sie lebte in Australien auf der Insel Tasmanien. Mathinna war eine Aborigine und ein Waisenkind; zu einer historisch überlieferten Figur wurde sie, weil sie vom damaligen Gouverneur Australiens und späteren tragischen Polarforscher Sir John Franklin adoptiert wurde.

Neben Mathinna hat dieser Roman noch eine weitere Hauptfigur: den berühmten englischen Schriftsteller Charles Dickens, der ein Theaterstück über Franklin geschrieben hat. Mathinna und Dickens wissen nichts voneinander und begegnen sich auch nie. Was passiert? Charles Dickens, saturiert und narzisstisch bis zur Unerträglichkeit, verlässt seine Frau und seine neun Kinder, weil er sich in eine 18-jährige Schauspielerin verliebt hat, während Mathinna zunächst adoptiert, dann vergewaltigt und verstoßen wird und elendig zugrunde geht.

Der deutsche Schriftsteller Stan Nadolny, in dessen Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ Franklin im Mittelpunkt steht, über „Mathinna“: „Das Ganze Buch eine schwere Wahrheit, aber ich las wie ein Rasender, fast süchtig nach Wahrheit und Traurigkeit.“

Flanagan liebt die Sprache, er badet in ihr, in „vulgären Regenbogenfarben“ oder in „dem geilen Geruch langer, ledriger, drachengrüner Algenstränge“. Kongenial die Übersetzung von Peter Knecht! Flanagan spielt atemberaubend lässig mit Stilmitteln, setzt sie ein, überrascht den Leser permanent. Eigentlich eine einzige Tragödie, brechen Possenstücke über den Leser herein, deren traumtänzerische Kalauer das Entsetzen fast unerträglich machen.

„Mathinna“ – zeitlos wie Flaubert und Zola oder Joseph Conrads Reise ins „Herz der Finsternis“. Flanagan ist ein Meister der bitteren Wahrheiten und ein Meister der leichten Hand. „Mathinna“, – das ist die 5. Dimension, wie Hemingway es nannte, wenn Roman und Leser eins werden.

Besprochen von Lutz Bunk

Richard Flanagan: Mathinna
Roman. Aus dem australischen Englisch übersetzt von Peter Knecht
Atrium Verlag, Zürich 2009
303 Seiten, 22.00 Euro.