Das Unfassbare fassbar machen

Von Barbara Wiegand |
Wie kann man Geschichte darstellen? Vor allem eine konfliktreiche Geschichte wie die des Libanons. Diese Frage stellt der aus Beirut stammende Künstler Walid Raad mit seinem Kunstprojekt „Atlas Group“. Bereits auf zahlreichen Biennalen und der Kasseler Documenta ausgestellt, ist es jetzt im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen.
Ein an die Wand gemaltes Schema, der Geruch nach Papier, Fotos, penibel sortiert, Zeitungsausschnitte, Notizbücher. Der Aktionsraum im Hamburger Bahnhof erinnert eher an eine Bibliothek, ein Archiv, als an eine Kunstausstellung – Walid Raads ausgestellte Werke sind dokumentarisch inszenierte Bilder und Schriftstücke aus dem Libanon. Bilder, in denen Kriege und Krisen im Land des Nahen Ostens stets gegenwärtig sind. Doch statt den Terror selbst, zeigt Walid Raad das, was von ihm übrig blieb, statt mitten drin, steht er am Rand. Menschen sind zu sehen, die in den von israelischen Luftangriffen erhellten Nachthimmel schauen, dutzende verklumpte Motoren als „Überlebende“ von Autobombenanschlägen.

„Die Arbeit gehört zu einer Serie von Arbeiten über Autobomben. Ein Projekt, das ich den frühen 90er startete, als Versuch, die Bomben nicht nur als Attentate zu sehen, sondern auch als Symbol für die permanente Bedrohung.“

1999 gründete der Künstler seine Atlas Group. Sein persönliches Archiv. Ein Projekt, mit dem er nicht die Weltkarte, sondern die Spuren libanesischer Vergangenheit nachzeichnet. Denn diese Geschichte ist auch seine eigene Geschichte. Der Sohn aus einem christlichen, libanesischen Elternhaus wurde mit 15 Jahren von zu Hause weggeschickt, allein auf den Weg in eine sicherere Zukunft. Heute lebt er in New York und in Beirut, außer wenn es zu gefährlich wird, wie in diesem Sommer. Nüchtern betrachtet, sieht er den aktuellen Konflikt als heißen Krieg, der einmal mehr auf den Kalten folgte.

„Was für mich in diesem Sommer so furchtbar war, war das Gefühl, dass alles schon mal gesehen zu haben, 1982 bei der Bombardierung Beiruts. Das war wie ein Déjà-vu. Es hat mich mitten ins Herz getroffen …“

Wenn Raad als Künstler vom Krieg im Libanon erzählt, ist man sich nie sicher, was wahr ist und was der 39-Jährige erfunden hat. Die Sonnenuntergänge, die ein angeblicher Agent auf der Küstenstraße Corniche filmte. Nachdem er die bis 1990 für gewöhnliche Menschen unüberwindliche Grenze zwischen Nord- und Südbeirut passiert hatte, das Notizbuch des fiktiven Historikers Dr. Fadl Fakhouri, der sich mit seinen Kollegen zu Zeiten des Bürgerkrieges in den 70er und 80er Jahren gern auf der Rennbahn herumtrieb. Dabei, so wird mit Hilfe unzähliger Fotofinishs kolportiert, wetteten sie nicht auf das schnellste Pferd, sondern um wie viele Bruchteile einer Sekunde vor oder nach seinem Einlauf das Zielfoto entstand.

„Ich war erstaunt, dass das Foto nie rechtzeitig geschossen wurde. Und ich stellte mir die Frage, wie man Geschichte abbilden kann, in dem Moment in dem sie passiert. Und was passiert, wenn die Ereignisse so furchtbar sind, dass ihr Leben aus den Fugen gerät und sie das Gefühl haben, außerhalb von Zeit und Raum zu stehen.“

Der historische Moment selbst wurde vom Fotografen selten getroffen. Was die Frage aufwirft, ob man Geschichte, so wie sie passiert, überhaupt dokumentieren kann. Und so steht Fiktion bei Walid Raad nicht für Manipulation, sondern für den Wandel von Sichtweisen und Wahrheiten im Lauf der Zeit. Der Libanon ist dabei nur ein möglicher Gegenstand von Walid Raads historischer Forschung – der 11. September könnte für den New Yorker Kunstprofessor ein weiterer sein.

„Ein Beispiel ist der 11. September. Denken Sie mal nach: Wie viele der Reportagen über den 11. September beginnen mit dem Satz: es war ein wunderschöner Tag mit einem strahlend blauen Himmel? Ich würde wissen wollen: was war das für ein Blau? Ich würde jedes Foto mit diesem blauen Himmel drauf sammeln. Denn im Vordergrund stehen die beiden Türme, in die die Flugzeuge fliegen werden und dahinter dieser unglaublich blaue Himmel, der schon die kommenden Rauchwolken ahnen lässt. Das blau ist für mich eine Metapher, die uns hilft, das Grauen zu beschreiben.“

Ein Projekt für die Zukunft, das genauso beeindrucken dürfte wie das aktuell im Hamburger Bahnhof ausgestellte – denn der Besuch in Walid Raads Atlas Group Archiv ist alles andere, als eine staubtrockene Angelegenheit. Er zeigt Bilder, die meist menschenleer und doch persönlich sind. Bilder die dabei helfen, das, was in unserer Erinnerung unfassbar ist, irgendwie erfassbar zu machen.

Service: „The Altas Group“ ist vom 22. September 2006 bis zum 7. Januar 2007 im Hamburger Bahnhof zu sehen.