Das umsorgte Kind

Von Astrid von Friesen |
Sind Kinder heute kränker als vor 20 Jahren? Fakt ist, mehr Kinder sind in Behandlung als früher. Doch übertreiben es manche Eltern auch mit der Sorge um ihren Nachwuchs.
Das Sommerloch brachte es wieder an den Tag: Negative Zahlen zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Jedes 20. sei psychologisch behandlungsbedürftig, jedes 5. Kind klage über psychosomatische Kopf- und Rückenschmerzen und es gäbe zunehmende Auffälligkeiten bei der emotionalen Entwicklung sowie im Sozialverhalten, häufig verschränkt mit zunehmenden Ängsten, auch der Angst vor allem Neuen, der Neophobie.

Ob Kinder wirklich kränker sind als noch vor 20 oder 30 Jahren, weiß jedoch niemand so recht, weil es keine sicheren Vergleichszahlen gibt. Gesteigert haben sich jedoch die Behandlungszahlen. Gut so!

Einerseits. Denn das heißt, Eltern und Erzieher gucken besser hin, nehmen differenzierter wahr, was mit den Kindern los ist und es wird rascher und tabuloser zum Arzt, Logo-, Ergo- oder Kindertherapeuten gegangen. In manchen Schulklassen befinden sich bereits zwei Drittel zeitweilig in Therapien. Da kann es fast nicht mehr passieren, dass ein Kind wegen Sehschwierigkeiten nicht lesen lernt. Dies würde bereits im Kindergarten bemerkt werden.

Wie immer im Leben gibt es jedoch auch ein Andererseits. Wir nennen es Hysterie; die beinhaltet den überzogenen Wunsch nach Bewunderung, es liegt eine mangelhafte Auseinandersetzung mit der Realität vor und die Fixierung auf die eigene Familie ist überdurchschnittlich groß.

Man kann mittlerweile sagen, dass der Sozialcharakter eines Großteils der Bevölkerung hysterisch zu nennen ist. Darunter fallen natürlich auch Eltern. Und die beobachten ihr Kind nicht nur liebevoll, sondern wittern in allem die pathogene Abweichung, die behandelt werden muss. Denn sie wollen sich in ihren Kindern verwirklichen, Bewunderung ernten und dazu wird Druck ausgeübt.

Mother-Watching nennen es die Amerikaner. Das Handy als verlängerte Nabelschnur und Überwachungsinstrument. Und just diese eigenen Ängste werden dem Kind aufgehalst, natürlich. Da erzählt ein Förster, dass jedes zweite Kind nicht weiß, dass man auf Bäume klettern darf! Ergo gibt es Kurse im Baumklettern! Aber bitte angeseilt und mit Sturzhelm. Zwei Drittel der Kinder fürchten sich vor harmlosen Käferlein auf der Hand und 98 von 100 können kein Lindenblatt identifizieren.

Was das mit psychischer und körperlicher Gesundheit zu tun hat? Man sollte sich nur die Kur- und Burnout-Programme oder Managerkurse anschauen. Da werden tausende Euros von den Krankenkassen oder privat für schlichte Naturerlebnisse oder Entspannung im Wald ausgegeben. Weil selbst Landkinder nicht mehr rausgehen, um ihre Muskeln und ihren Mut, ihre Schwindelfreiheit und ihre Neugier, ihre Entspannung und ihre Motorik zu spüren und einzuüben.

Das sinnliche Vergnügen eine Bude aus Zweigen und Farnblättern zu bauen, stundenlang im Bach einen Staudamm zu errichten oder Puppenbetten aus Moos zu fabrizieren, diese Sinnes-, Körper- und Geisteslust bleibt ihnen verwehrt. Das Gegenteil findet täglich statt: Zu Hause in der Wohnung beschränkt, vor dem Computer wie fest genagelt, entsteht körperliche Unruhe, Zappeligkeit, Gereiztheit und Ausbrennen.

Da Sinneslust außerdem einher geht mit dem Lebenssinn, bleibt auch der oftmals auf der Strecke. Das macht langfristig unglücklich und irgendwann auch krank. Gott sei Dank, dass es jetzt sogar schon Naturtherapeuten gibt, die wenigstens mit Erwachsenen wieder raus in den Wald ziehen, um dort glücklich zu sein.

Astrid von Friesen, Jahrgang 1953, ist Erziehungswissenschaftlerin, Journalistin und Autorin sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin in Dresden und Freiberg. Sie unterrichtet an der TU Bergakademie Freiberg und macht Lehrerfortbildung. Zwei ihrer letzten Bücher: "Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die 2. Generation deutscher Vertriebener" (Psychosozialverlag 2000) sowie "Von Aggression bis Zärtlichkeit. Das Erziehungslexikon" (Kösel-Verlag 2003). Zuletzt erschien "Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: frustrierte Frauen und schweigende Männer" (Verlag Ellert & Richter 2006).
Astrid von Friesen
Astrid von Friesen© privat