Das Überraschungsei aus Wolfsburg

Von Jochen Stöckmann |
Das "white cube": Eine 40 x 40 Meter große, 16 Meter hohe Halle bildet den Kern des 1994 vom Architekten Peter Schweger geplanten Gebäudes. Damit verfügte Wolfsburg lange vor der Londoner Tate Modern über einen Raum, der bis hin zu aufwendigen Video-Installationen für alle Kunstformen geeignet ist. Und das Konzept kommt in der Kunstwelt an.
Eine quadratische Halle, 40 x 40 Meter und 17 Meter hoch, das ist das Herzstück des Kunstmuseums in Wolfsburg. Von Anfang an, seit 1994 bespielt Kurator Holger Broeker diesen Würfel, der mit seiner Schlichtheit industrieller Zweckarchitektur vor allem für Video- und Multimediakunst geeignet scheint:

"Dieser "cube" ist manchmal weiß, manchmal ist er auch schwarz, wie man bei Douglas Gordon gesehen hat - da war das ja hier die platonische Höhle. Bei Philippe Taaffe, der sich sehr stark mit dem Thema des Ornaments auseinandersetzt, da hatten wir ein Muster von 5 x 5 Quadranten. Diesen Grundriss selbst hat man von hier oben, von der Empore, wo wir geradestehen, auch tatsächlich als solchen erkennen können."

Philippe Taaffe ist Maler - im Gegensatz zu Wolfsburger Stammgästen wie Bruce Naumann oder Stan Douglas. Und zu seinem Stil passt das Labyrinth. Für andere Ausstellungen war es ein großzügiger Rundkurs oder ein Parcours aus lauter kleinen Kabinetten, mal als Enfilade mit weitem Durchblick für die Lichtkunst eines James Turrell, dann eher verwinkelt mit abgeschirmten Orten der Meditation wie bei der Schau "Japan und der Westen". Diese Entscheidungen trifft Museumsdirektor Markus Brüderlin mit skrupulöser Sorgfalt:

"Wo beginnt man, die Kunst zu vergewaltigen? Und wo illustriert man bloß? Und wo ist die Werkgerechtigkeit? Das sind Fragen, die kann man nur ganz konkret an der Sache lösen. Im Kunstmuseum Wolfsburg durch unser flexibles Stellwandsystem, das uns erlaubt, praktisch alles zu bauen."

So wird Ausstellungsarchitektur zur Kunst. Eigentlich ganz einfach, mit dem offiziell patentierten "Wolfsburger System", wie Kurator Holger Broeker verrät:

"Es sind Aluminiumkonstruktionen, sogenannte Pfosten-Riegel-Konstruktionen. Sprich: Man nimmt zwei Leitern und schlägt dann in entsprechende Vorrichtungen Querstreben ein und schon steht das Gerüst. Das wird dann mit Holzplatten verplankt, gestrichen - und fertig ist das."

Gestrichen wird vorzugsweise weiß - und darin zeigt sich die Rückkehr des lange Jahre verschmähten "white cube", des scheinbar neutralen Raumes für die Kunst. Wer die Ausstattungsorgien der Architektin Gae Aulenti im Pariser Musée d'Orsay oder ihre schwelgerisch inszenierten Block-Buster-Schaus im venezianischen Palazzo Grassi gesehen hat, der weiß, wovon Markus Brüderlin redet:

"Wir sagen ja, diese Postmoderne war eine Verschnaufpause für schwache Geister. Gerade Gae Aulenti hat hier eine Inszenierung gemacht im Kunstmuseum Wolfsburg mit bühnenbildartigen Versatzstücken, so stilisiert, dass dann die Kunstwerke darin verschwunden sind."

Es war die Ausstellung "Italienische Metamorphosen" 1995, gleich nach der Eröffnung des Wolfsburger Museums. Seither hat sich hier einiges getan - auch in Abgrenzung zu der aufsehenerregenden Architektur von Zaha Hadid im benachbarten "Phaeno", ausgelegt für technische Wissensvermittlung.

"Die Ausstellungsarchitektur hat nichts mit Didaktik zu tun. Bei uns gibt es immer mehrere Wege, der Besucher kann immer auch flanieren und ausweichen. Es gibt ungefähr einen Anfang und ungefähr ein Ende."

Dazwischen werden, in einer der größten Museumshallen Europas, einfach nur schlichte Wände aufgebaut, aber in unendlichen Variationen. Und diese Gestalt, der Grundriss wechselnder Ausstellungsarchitekturen ist nie beliebig.


Markus Brüderlin: "Das Kunstwerk wird erst durch die Betrachtung vollendet. Dadurch ist der Künstler natürlich herausgefordert, sich selbst - während er schafft - in die Position des Betrachters zu begeben. Dass Künstler jetzt beginnen, spekulativ Effekte im Sinne der Event-Kultur vorauszuberechnen, das finde ich nicht sonderlich interessant."

Am heimischen PC berechnet hat auch Gerwald Rockenschaub seine gewaltige, über 70 Meter lange Bilderwand, die derzeit in Wolfsburg zu sehen ist. Aber Rockenschaub ist nicht auf vordergründige Effekte aus, er experimentiert mit dem Raum-Erlebnis. Wie zuvor Museumsdirektor Markus Bruederlin, als er die zartgliedrigen Skulpturen von Giacometti in blendend weißen, scheinbar unendlichen Kabinetten präsentierte:

"Wir sind ein Labor. Und in einem Labor wird getestet. Wir geben in der Auseinandersetzung mit Giacometti keine endgültigen Formen vor. Das hat sehr viele der Fachleute überzeugt, die im ersten Moment bei gewissen Räumen geschluckt haben. Zum Beispiel ein Raum mit abgerundeten Ecken, wo die Architektur verschwindet um diese kleinen Figürchen zu zeigen."

Was Brüderlin mit Blick auf sein weißes Raumlabor als eher theoretisches Konzept verteidigt, ist in der Museumspraxis ein kommerzieller Erfolg: Neben großen Häusern in Spanien, Dänemark oder den USA haben auch die K 21 Kunstsammlung in Essen oder das Museum Folkwang in Essen die Stellwände im Einheitsmaß von 5,20 Meter geordert.

Markus Brüderlin: "Das Wolfsburger System scheint zu überzeugen. Wir haben monatlich Anfragen, das in neuen Museen bis hin zu privaten Wohnungen und Häusern zu bauen. Das ist auch eine wirtschaftliche Voraussetzung, damit wir das hier machen können."