Das Totschlagargument

Von Jürgen König · 18.01.2011
Die milliardenschweren Finanzhilfen für Griechenland oder das Bahnprojekt Stuttgart 21 - alles wurde uns schon als "alternativlos" hingestellt. Dies vergrößere die Politikverdrossenheit der Bürger, entschied die Jury aus Sprachexperten.
Das Unwort des Jahres 2010. "Alternativlos". Das war auch der Favorit des Jury-Sprechers, des Frankfurter Germanisten Horst Dieter Schlosser. "Alternativlos" - das heiße, es lohne sich nicht mehr, darüber zu reden und das sei in der Politik gefährlich. "Alternativlos" - das suggeriere, dass es bei anstehenden Entscheidungen von vornherein keine Alternative gäbe – und somit auch keine Notwendigkeit zur Diskussion und Argumentation – und das sei nicht nur sachlich unangemessen, sondern könnte - da 2010 vieles als "alternativlos" hingestellt wurde - die Politikverdrossenheit der Bürger vergrößern

Hat er damit recht? Ja. Zunächst ganz wörtlich verstanden: Es gibt zu allem eine Alternative, nur zum Sterben nicht. Und - ja: "alternativlos" kann zum Totschlagargument werden, bevor die Debatte überhaupt begonnen hat, und das Wort wird von Politikern sehr oft verwendet: Die milliardenschweren Finanzhilfen für Griechenland seien alternativlos, ebenso der Einsatz in Afghanistan und die globale Kooperation, das geeinte Europa, die NATO, die Gesundheitsreform, das Bahnprojekt Stuttgart 21, die Rente mit 67 – alles wurde uns schon als "alternativlos" hingestellt; selbst die freundschaftlichen Verbindungen zwischen Europa, den Vereinigten Staaten und Kanada waren schon – für die Kanzlerin 2007 im Bundestag - "alternativlos", was einfach Unsinn ist, denkt man an den großen Satz von Charles de Gaulle: "Staaten haben keine Freunde, Staaten haben Interessen."

Fördert die häufige Verwendung des Begriffs "alternativlos" die Politikverdrossenheit? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht wird solche Rede gerade als hohl erkannt und weckt den Widerspruch. Der Streit um die Griechenland-Entscheidungen ging trotz der behaupteten "Alternativlosigkeit" ebenso weiter wie der über die Gesundheitsreform, über Stuttgart 21 und die Rente mit 67. Die Öffentlichkeit findet es durchaus - vielleicht gerade - lohnenswert, über etwas zu streiten, was doch "alternativlos" sein soll. In den Medien lassen sich "notwendige Diskussionen" sowieso nicht unterdrücken.

Werden die Politiker jetzt seltener von "alternativlosen" Entscheidungen sprechen? Wohl nicht. Zumal am Ende längerer, öffentlicher Debatten, wenn der Vorwurf nicht mehr sticht, eine Diskussion werde unterdrückt, wird auch weiterhin gesagt werden, dieses oder jenes sei "alternativlos".

Werden wir Medienbürger jetzt immer zusammenzucken, sobald jemand etwas "alternativlos" findet? Wohl nicht. Erinnern Sie sich noch an das "Unwort des Jahres 2009"? Das hieß "betriebsratsverseucht" und so gut wie niemand hatte es vor seiner Ernennung zum "Unwort des Jahres" jemals gehört. Abteilungsleiter einer Baumarktkette hatten es gegenüber Angestellten benutzt, die von einer Filiale mit Betriebsrat in eine Filiale ohne Betriebsrat wechseln wollten - und dort dann zu hören bekamen, ihr Interesse an einer Arbeitnehmervertretung würde ihre Anstellung gefährden. Das ginge nicht, befand die sprachwissenschaftliche Jury: Die Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen "störe" zwar viele Unternehmen, dies als "Seuche" zu bezeichnen, sei aber ein zumindest sprachlicher Tiefpunkt im Umgang mit Lohnabhängigen. Wahr gesprochen! dachten Millionen Deutsche; und hatten die Geschichte einen Tag später wieder vergessen. Wie mögen die Abteilungsleiter jener Baumarktkette reagiert haben, als ihre Sprachschöpfung plötzlich als "Unwort des Jahres" für einen Tag wieder lebendig wurde? Wahrscheinlich hatten auch sie den Begriff schon wieder vergessen, man redet ja viel, wenn der Tag lang ist – und sie werden sich dann köstlich amüsiert haben, "betriebsratsverseucht, Ha! – wisst ihr noch?"

Interessant ist, dass von denen, die Vorschläge für das Unwort des Jahres eingesandt hatten, sich kaum jemand für "betriebsratsverseucht" ausgesprochen hatte. Am häufigsten war 2009 das "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" vorgeschlagen worden, ein wahres Sprachungetüm, bei dem jeder sich sofort mit einer gewissen Fassungslosigkeit fragte: Wer in aller Welt denkt sich nur so etwas aus? Sehr viele Menschen haben ein feines Sprachgefühl und reagieren empfindlich, wenn man "ihrer" Sprache Gewalt antut. "Das "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" war ein solcher Fall von Gewalt an der Sprache. Die Jury zum "Unwort des Jahres" aber hat anderes im Sinn: Sie will "Wörter und Formulierungen aus der öffentlichen Sprache" brandmarken, die "sachlich grob unangemessen sind und möglicherweise sogar die Menschenwürde verletzen”.

Das "sachlich grob Unangemessene" aber greift die Tagespresse schon auf, auch der Begriff "alternativlos" wurde und wird, wann immer jemand ihn gebraucht, problematisiert und – wo nötig – kritisiert. Was fügt die Ernennung zum "Unwort des Jahres" solcher Kritik noch hinzu?
Wem nützt das "Unwort des Jahres"? Der Pflege der öffentlichen Rede? Vielleicht. Der Menschenwürde? Eventuell. Der Jury, die für einen Tag eine gewisse Aufmerksamkeit erfährt? Auf jeden Fall.

Links zum Thema:

"Wutbürger"
Das Wort des Jahres 2010 (DLF)
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