Das Theater der 68er

Von Hartmut Krug · 07.04.2008
Was bislang den Bildungsbürgern vorbehalten war, sollte auch anderen Zielgruppen zugänglich gemacht werden: Für die 68er hieß Theater auch Politik. Mit neuen Formen trieben sie die Modernisierung der Theaterlandschaft voran.
Als Therese Giese 1970 an der Berliner Schaubühne die Titelrolle von Gorkis "Die Mutter" spielte, wurde das historische Stück zugleich als aktuelles politisches Postulat verstanden. Für die Studentenbewegung war das Theater ein wichtiges Medium, das politisiert und demokratisiert werden musste. Von Beginn an gab es zwei sich ergänzende Bewegungen: Man ging hinaus aus dem Theater mit Happening und Agitprop, mit Vor- und Mitspieltheater, und, - man suchte die Verhältnisse in den Theatern zu verändern und neue Themen zu finden. Nicht mehr nur der Bildungsbürger, sondern auch bildungsferne Zielgruppen waren gemeint. Es entstanden Lehrlings- und Kindertheater, und es gab Frauen- und Behindertentheater. Die nachhaltigste Langzeitwirkung gab es beim Kindertheater, wo die Rote Grütze oder das Grips am Anfang der Entwicklung einer reichen Kindertheaterlandschaft standen.

Im Spannungsfeld zwischen naivem politischem Aufsagetheater und sensibler theatraler Auseinandersetzung mit alter Ästhetik und neuer Wirklichkeit entwickelte sich unter dem Motto "Emanzipation" eine große freie Szene das alternativen Vor- und Mitspieltheaters. Sie hat die deutsche Theaterlandschaft nachhaltig verändert. Unter anderem, indem sie das Theater als eingreifendes Medium verstand, auch wenn sie dabei die direkte politische Einwirkungsmöglichkeit von Theater überbewertete und anfangs ästhetische Fragen vernachlässigte. Doch zugleich entwickelte man demokratische und kollektive Arbeitsformen und setzte gegen das vorherrschende Literaturtheater ein Theater aller Formen.

"Wir gehen davon aus, dass sämtliche Aktivitäten des Theaters von vornherein mit allen Beteiligten, das heißt mit den Schauspielern, mit dem künstlerischen Mitarbeiterstab diskutiert werden, dass man einen Spielplan gemeinsam festlegt."

Als Jürgen Schitthelm 1970 über neue Formen kollektiver Theaterarbeit und das Mitbestimmungsmodell der Schaubühne sprach, hatten sich schon etliche Bühnen zwischen Frankfurt und Ulm an solchen Modellen versucht. Der spannungsreiche Prozess der weiteren Emanzipation der Schauspieler führte diesen fort vom Dienstleiser hin zum mitdenkenden Darsteller. Jetzt wurden Texte sehr genau analysiert, wurden zugleich auf ihren historischen Bedeutungsgehalt wie ihre aktuelle politische Bezüglichkeit befragt, wie es Peter Stein bei seiner Inszenierung von Ibsens "Peer Gynt" an der Schaubühne 1972 tat:

"Wir sehen die Möglichkeit, das eigentlich ganz direkt anwendbar zu machen auf unsere Situation, indem wir da Möglichkeiten sehen, unsere unmittelbare Herkunft und Geschichte herauszulesen, indem dieses Stück nämlich die kleinbürgerliche, bürgerliche Welt sehr genau beschreibt."

Der Studentenbewegung ging es auch im Theater um Zeitgenossenschaft, um direkte Anwendbarkeit von Erkenntnissen, und dabei wurde eher polit-ökonomisch als moralisch argumentiert. Auch wenn die Politisierung des Theaters damals auf gelegentlich groteske Weise übertrieben wurde, so hat sie doch ein neues Verständnis von Theater befördert. Eines Theaters, das sich auf allen Ebenen erneuerte, formal, organisatorisch und auch inhaltlich. Was heute in seinen Auswüchsen als Regietheater angegriffen wird, hat seine Wurzeln hier: als gesellschaftlich waches und ästhetisch reichhaltiges Theater für viele Publikumsschichten.

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