Das Tempo-Taschentuch wird 90

Ein Alltags-Accessoire der Wegwerfgesellschaft

Eine Frau in 1920er-Jahre-Mode mit einem Päckchen Tempotaschentücher.
Seit 90 Jahren werden Taschentücher weggeworfen. © Tempo / Essity Germany GmbH
Von Laf Überland · 29.01.2019
Zart bestickt, gebügelt und sorgfältig gefaltet: Früher war das Taschentuch ein Luxus-Accessoire. Dann erfand Oskar Rosenfelder das Papiertaschentuch zum Wegwerfen. Eine jüdische Erfolgsgeschichte – bis die Nazis die Firma "arisierten".
Wer heute um die Sechzig ist, der kennt wahrscheinlich noch diese Enttäuschung, wenn man zur Erstkommunion oder Konfirmation anstatt der erhofften Bargeldzuwendungen stapelweise Taschentücher geschenkt kriegte – aus Stoff, für Jungen in Grautönen mit dunkelbunten Rändern meist.
Stofftaschentücher waren eine Art Aussteuerartikel, die man auch angehenden Männern schenken konnte, als Accessoires für den Alltag. Zwar waren da Papiertaschentücher längst eingeführt, aber Stofftaschentücher stellten eben doch lange Zeit noch etwas Wertiges dar – gestärkt und gebügelt.

Der Beginn der Wegwerfgesellschaft

Aber das Tempo-Taschentuch hat das Bewusstsein verändert: Schnupfen für Schnupfen läutete es die Wegwerfgesellschaft ein, seit die Geschwindigkeit Einzug in die Gesellschaft hielt und alles – Tempo! Tempo! – immer schneller gehen musste.
Nein, nicht gerade das Naseputzen selbst, aber mit diesen Wegwerftaschentüchern aus Papier sparte man Zeit, weil die nicht mehr gewaschen, getrocknet, gestärkt und gebügelt werden mussten.

Von Hand gefertigt und verpackt

Erfunden hatte diese Papiertaschentücher der Mitinhaber der Vereinigten Papierwerke Nürnberg, Oskar Rosenfelder. 18 Stück steckten vor 90 Jahren in einer Packung, jedes einzelne wurde in den ersten Jahren von Hand geschnitten, sauber gefaltet und verpackt.
Übrigens waren Taschentücher, um sich die Nase drin zu putzen, da noch relativ neu. Zwar kannten schon die alten Römer Stofftaschentücher, allerdings wischten die sich damit nur den Schweiß ab.
Im 11. Jahrhundert kriegten diese Stofftücher eine beinahe mythische Bedeutung, wenn die Ritter das Tuch ihrer Angebeteten mit in die Schlacht nahmen und es anschließend schweiß- oder gar blutgetränkt zurückgaben als Unterpfand der Minne.
Sich da hineinzuschneuzen, wär ziemlich unschicklich gewesen! Und sowieso schneuzten sich die Menschen aller Schichten damals ja mit den Fingern und wischten diese anschließend an der Kleidung ab.
Alfred Stevens Gemälde "Der  Kondolenzbesuch" (1857) zeigt drei trauernde Frauen auf einem Sofa. Die schwarzgekleidete Frau in der Mitte weint in ein Taschentuch.
Alfred Stevens Gemälde "Der Kondolenzbesuch" (1857).© dpa / picture-alliance / akg-images
Im 15. Jahrhundert aber wurde das Taschentuch zum Luxusgegenstand – aufwändig bestickt und als Statussymbol in der Hand herumgetragen, gern mit Parfum besprenkelt. Und erst mit dem Aufkommen des Schnupftabaks und der Möglichkeit, die Tücher industriell günstig herzustellen, wandelte sich die Verwendung der Ziertücher hin zum Aufnehmen der Nasensekrete.

Ein Nazi übernahm die jüdische Erfindung

Die jüdische Tempo-Fabrik und die Rechte an der bahnbrechenden Erfindung übernahm sechs Jahre nach der Patentierung für wenig Geld der Nationalsozialist Gustav Schickedanz, späterer Gründer des Kaufhauses Quelle.
Und tatsächlich wurde das Papiertaschentuch dann immer weiter entwickelt: Weil Luft und Flüssigkeit beim Niesen mit Geschwindigkeiten bis zu 170 km/h aus der Nase schießen, wurde es immer widerstandsfähiger, und weil moderne Menschen so viel anderes im Kopf haben als wie man Wäsche wäscht, ist es inzwischen auch waschmaschinenfest.

Tempo wirbt mit Bastelaktionen

Das Taschentuch an sich ist zum nüchternen Alltagsgegenstand geworden, und wenn heutzutage eine Dame ihr Tempo fallen lässt und ein Mann es aufhebt und ihr hinterherträgt, dann wahrscheinlich, um ihr den Weg zum nächsten Abfalleimer zu weisen.
Aber falls mit wachsendem Nachhaltigkeitsbewusstsein und im Zuge der allgemeinen Entschleunigung demnächst wieder gestärkte Stofftaschentücher in Mode kommen sollten, so hat die Firma Tempo für ihre Papierprodukte die nächste Zielgruppe bereits auf YouTube anvisiert. Dort erklärt eine junge Frau:
"Hey ihr Lieben! Willkommen bei unserem Basteln mit Tempo. Wir basteln heute Seerosen aus Tempotaschentüchern. Das ist besonders praktisch, wenn sich spontaner Besuch ankündigt."
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