Das Tagewerk des Pop-Literaten

Von Knut Cordsen · 04.08.2008
"Tagebücher werden in Deutschland nicht gelesen", hat Walter Kempowski mürrisch in seinem letzten Tagebuch "Somnia" notiert. Das bezweifelt auch auch der 33-jährige Pop-Literat Benjamin von Stuckrad-Barre nicht. Doch ist dieser Satz für ihn ein Ansporn, gerade ein solches Tagebuch zu schreiben, das dann auch wirklich gelesen wird. Bis zur Veröffentlichung seines "Tagewerks" könnten allerdings noch ein paar Jahre vergehen.
"Ich gehe in Buchhandlungen genau immer in diese Idiotenecke mit Briefbänden und Tagebüchern. Das ist das, was ich am liebsten lese. Ich habe sehr wenig Geduld mit Fiktion anderer Leute, das muss dann schon sehr gut geschrieben sein, aber Tagebuch kann auch ruhig schlecht geschrieben sein, das finde ich das Interessanteste, was es gibt, da stehen ja lauter verkürzte Romane eigentlich drin."

Benjamin von Stuckrad-Barre liest Tagebücher nicht nur liebend gern, seit einigen Monaten führt er auch selber eines. Sein nun entstehendes Tagebuch, sein "Tagewerk" soll nach Maßgabe der Guntram- und Irene-Rinke-Stiftung, die Stuckrad Barre zum Diaristen des Jahres 2008 gemacht hat, "den Puls des Jahres spürbar machen, das flüchtige Lebensgefühl für die Zukunft festhalten, nachfolgenden Generationen als literarische Datenbank dienen".

Franz Kafkas Tagebücher findet er "sehr lustig", Stuckrad-Barres Idol aber ist seit jeher Walter Kempowski. Und was hält nun einer wie Stuckrad-Barre von Walter Kempowskis Satz, der sich in seinem Tagebuch "Somnia" findet: "Wer Tagebuch schreibt, verdoppelt sein Leben"?

"Ich habe einen anderen Satz von Kempowski im Ohr, den er mir selbst noch gesagt hat: 'Wer als Schriftsteller kein Tagebuch schreibt, ist ein bisschen schief gewickelt.’ Das habe ich beherzigt und versuche das seither. Und den anderen Satz, dass man sein Leben verdoppelt - das wäre schön, wenn das ginge, denn es ist mir ein totales Rätsel, wie speziell Kempowski das hingekriegt hat: Diese Menge jeden Tag zu schreiben, diese Konsequenz und das eigentliche Werk noch vorantreiben zu können - das ist sicher nur eine Sache der Übung und der Disziplin, aber ich finde das sehr schwierig. Also, wenn ich einen Tag hernehme und beschreibe, dann ist ja plötzlich alles beschreibenswert. Wenn man dann der Versuchung erliegt, einen literarischen Text daraus zu formen, dann dauert das gleich drei Tage, bei mir zumindest."

Es ist nicht allzu verwunderlich, dass gerade einer wie der 33-jährige Stuckrad-Barre so angefixt ist von Kempowskis in saloppem Ton gehaltenen Tagebüchern. Schließlich ist Stuckrad-Barre, wie jeder Pop-Autor, zuvörderst ein Chronist und Archivar der Gegenwart.

Stuckrad-Barres letztes Buch trug bezeichnenderweise den Titel "Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft Remix 2". Um die mitunter hochkomische "Verzahnung von kollektiver und persönlicher Erinnerung" war es Walter Kempowski und ist es nun auch Benjamin von Stuckrad-Barre zu tun.
"Also wenn ein Leben dreidimensional wird in seiner ganzen Banalität, dann wird es interessant: das Nebeneinanderherlaufenlassen. Die Weltgeschichte und die eigene Geschichte und die Berührungspunkte sind dann interessant. Heute zum Beispiel saß ich im Flugzeug hinter Wolfgang Schäuble. Da könnte ich zehn Tage darüber schreiben und nachdenken, ob das jetzt ein besonders sicherer oder ein besonders unsicherer Flug ist - und die Umstände, die dieser Mann hat aufgrund seiner Behinderung.

Also er war der erste, der im Flugzeug saß, mit lauter Personenschützern. Und danach gingen alle raus, und er ist dann verfrachtet worden auf so einen Rollstuhl. Gar nicht auf den seinen, sondern es stand da in diesem thinger, der ans Flugzeug heranfährt, so ein Flughafen-Rollstuhl: weil wahrscheinlich seiner, sogar der des Innenministers, aufgegeben werden muss und im Gepäck mitfährt. Wenn man also darüber nachdenkt, das zu beschreiben, kommt man nicht mehr mit, mit dem eigenen Leben."

Alles gar nicht so einfach. Von Kempowskis Witwe Hildegard bekam Stuckrad-Barre kürzlich noch einen nicht beschriebenen Leerband geschenkt, den ihr Mann Walter noch hatte füllen wollen mit Anmerkungen und Beobachtungen aus seinem Alltag, wozu er nicht mehr kam. Die Scheu, in dieses noch völlig weiße Buch des verehrten Meisters etwas zu schreiben, ist nur allzu groß. Und außerdem: Wo eigentlich führt man am besten Tagebuch, gibt es dafür einen speziellen Ort?
""Also Kempowski hat mir erzählt, er habe viel im Bett geschrieben. Sowohl morgens als auch abends. Abends - wenn es ein Tag war, über den zu schreiben sich lohnt - dann gehe ich ins Bett und schlafe komischerweise ein. Davor gehe ich nicht in Bett. Und morgens sind dann andere Sachen zu tun als noch im Bett zu liegen. Das Bett ist für mich nicht der Ort zum Schreiben, habe ich schon herausgefunden."
"Tagebücher werden in Deutschland nicht gelesen". Den Satz hat Walter Kempowski mürrisch in seinem letzten Tagebuch "Somnia" notiert. Dass dem so ist, bezweifelt Stuckrad-Barre nicht, aber Kempowskis Satz ist für ihn auch ein Ansporn, eben doch ein solches Tagebuch zu schreiben, das dann auch wirklich gelesen wird. Er will es anders machen als Rainald Goetz, der Tag für Tag seinen Blog "Klage" auf der Homepage des Magazins "Vanity fair" veröffentlichte.

Bisher weiß Stuckrad-Barre gar nicht, ob er sein "Tagewerk" jemals veröffentlichen wird. Vielleicht, sagt er, sei er erst 2011 so gut, dass er einer Publikation zustimmen könne. Und dann ist da ja auch noch die Frage, wo er dieses Tagebuch veröffentlichen wird.

"Also in keinem Fall im Internet. Diese ganzen Blogs finde ich eher schrecklich. Ich finde, das tut so einer Art unmittelbarem Text gut, wenn man da noch mal drübergeht, wie Kempowski sagt. Ich finde das Internet prima, aber ich habe einen Text auch gern auf Papier, und dass der Text sich nicht verändert. Das ist so scheinbar dynamisch. Aber mich ödet es unglaublich an, dass der Text da nie fertig ist."