Das Streben nach Glück

Von Sabine Korsukéwitz |
Armut und Ungleichheit seien in den letzten Jahren in Deutschland viel schneller gestiegen als in den meisten anderen Industriestaaten, heißt es in einer OECD Studie. Auch bei der Kluft zwischen Armen und Reichen haben wir uns auf Spitzenniveau hochgearbeitet. Ungleichheit hat eine lange Geschichte, in deren Verlauf auch deutlich wurde, dass über sie mit Statistiken allein nur schwer zu urteilen ist.
Kaum ein Tag vergeht ohne neue bestürzende Zahlen über die Spaltung der deutschen Gesellschaft in Verlierer und Gewinner. Die gesellschaftliche Mitte schrumpft, Armut verfestigt sich. Obwohl diese "Armut" kaum zu vergleichen ist mit dem Elend der unteren Klassen vor den Weltkriegen, meinte kürzlich die SPD-nahe Friedrich Ebert Stiftung sogar schon Demokratieverdrossenheit feststellen zu können. Worum geht es eigentlich in dieser Diskussion: um Kasse, um mehr Gleichheit, um Freiheit, um Lebensglück? Und ist unsere Gesellschaft tatsächlich schon gefährdet?

Die soziale Ungleichheit, also der ungleiche Zugang zu materiellen und immateriellen Gütern, war früher viel krasser und wurde doch ertragen, sagt der Historiker Mark Spoerer:

"Soziale Ungleichheit ist eigentlich im Verlauf der Geschichte als gegeben akzeptiert worden. Was die Leute auf die Straße getrieben hat, waren plötzliche Brüche. Wenn also bestimmte Rechte nicht mehr anerkannt wurden, also etwa im Mittelalter oder in der frühen Neuzeit das Recht, Brennholz im Wald zu sammeln. Wenn das auf einmal von einem neuen Herrscher untersagt wurde, dann wurde das als Eingriff in bestehende historische Rechte gesehen und führte zu Unruhen."

Die Aufklärer mit ihrem Ruf nach Freiheit und Gleichheit schufen die geistigen Voraussetzungen dafür, dass soziale Ungleichheit rechtfertigungsbedürftig wurde. Der Historiker Paul Nolte:

"Die zweite Stufe kam dann im 19 Jahrhundert mit der Industrialisierung, dem Kapitalismus und der Kritik an der noch einmal zugespitzten Ungleichheit, die in dieser Zeit entstanden sind durch die neuen ökonomischen Verhältnisse, und das verbindet sich dann zum Beispiel mit Namen wie Karl Marx.

Eigentlich war Marx auch nur einer von Vielen in einer langen Reihe von Sozialisten, die sich Gedanken gemacht haben über die Veränderungen in der Gesellschaft, über das Missverhältnis von, ja, natürlichen Rechten und harten ökonomischen Tatsachen, aber er hat sicher auf besonders propagandistisch wirkungsvolle, auch schon in seiner Zeit sprachmächtige Weise das zum Ausdruck gebracht."

"Alle bisherige Gesellschaft ... beruht auf dem Gegensatz unterdrückender und unterdrückter Klassen. Um aber eine Klasse unterdrücken zu können, müssen ihre Bedingungen gesichert sein, innerhalb deren sie ihre knechtische Existenz fristen kann. ... Der moderne Arbeiter ... statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper..."

1872, "Das kommunistische Manifest".

Die Auflösung der alten grundherrschaftlichen Verhältnisse, Landflucht und industrielle Revolution hatten zur Verelendung großer Teile der Bevölkerung geführt, die allerdings zum Teil durchaus selbst herbei geführt war. 1893 schrieb der deutsche Nationalökonom Max Sering:

"Während die Großstädte und Industriebezirke in ihren überfüllten Quartieren eine wachsende Reservearmee ansammeln, welche kaum in den Zeiten des höchsten gewerblichen Aufschwunges vollständig Beschäftigung findet und die Lebenshaltung der übrigen Arbeiter herabdrückt, gebricht es den weiten Flächen der östlichen Ackerbaudistrikte an Menschen, welche sie bestellen und abernten, stehen tausende von ländlichen Arbeiterwohnungen leer."

Warum gingen Menschen freiwillig aus schlechten aber gesicherten Verhältnissen auf dem Land in das städtische Elend? Max Weber in seiner Studie über die Verhältnisse der ostelbischen Landarbeiter:

"Nicht materielle Gründe sind es: nicht aus den Gegenden mit niedrigem Lohnniveau und nicht aus den schlecht gelohnten Arbeiterkategorien rekrutiert sich der Abzug; kaum eine Situation ist materiell gesicherter als die eines Dienstmanns auf den östlichen Gütern. Auch nicht die vielberufene Sehnsucht nach den Vergnügungen der Großstadt. ... Dies ist es: zwischen den Gutskomplexen der Heimat gibt es für den Tagelöhner nur Herren und Knechte, und für seine Nachfahren im fernsten Glied nur die Aussicht, nach der Gutsglocke auf fremdem Boden zu scharwerken. In dem dumpfen, halbbewussten Drang in die Ferne liegt ein Moment eines primitiven Idealismus verborgen. Wer es nicht zu entziffern vermag, der kennt den Zauber der Freiheit nicht."


Wir wollen festhalten: Es ging um Freiheit und um Chancen, wenn sie auch noch so illusionär waren.

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die politischen Eliten von der "sozialen Frage" zu sprechen. Das Problem war erkannt, die Lösungsansätze aber höchst unterschiedlich: Die Kirchen bauten auf Spenden und moralische Verantwortung der Reichen; die Marxisten forderten die Vergemeinschaftung der Produktionsmittel; die Arbeiterbewegung versuchte mit vereinter Kraft menschenwürdige Mindestlöhne und Absicherung für Krankheit und Arbeitslosigkeit zu erreichen.

Als Reaktion auf Unruhen und die erstarkenden Sozialisten führte Reichskanzler Otto von Bismarck 1883 die Krankenversicherung und 1884 die Unfallversicherung ein; die Krankenversicherung war zu einem Drittel und die Unfallversicherung komplett vom Arbeitgeber zu finanzieren. Später kam die Rentenversicherung dazu. Damit war der Sozialstaat geboren, nicht aus altruistischen, sondern aus Vernunftgründen. Da diese Maßnahmen nicht zum erwünschten Ziel führten, verlor Bismarck selbst bald das Interesse an dem Projekt. In seinen Memoiren erwähnte er es mit keinem Wort.

"Der Kaiser hat abgedankt!... Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen!... Es lebe die Republik!"

Die Weimarer Republik war immer noch eine scharfe Klassengesellschaft und die verschieden Milieus bekämpften sich, ein Zustand, der auf Dauer unerträglich wurde:

Nolte: "Das Unbehagen über diese Klassenspaltung war sehr groß und das Bedürfnis, diese zu überwinden, das haben die Nationalsozialisten in ihrer Propaganda sehr gut bedient. Das war ein Moment. Ein anderes Moment war sicher die materielle Unsicherheit der Mittelschichten, des Bürgertums, die im Ausgang des Ersten Weltkriegs durch die Inflation zum Beispiel sehr stark zugenommen hatte: Da waren viele Vermögen von mittelständischen Haushalten vernichtet worden, man konnte sich nicht mehr soviel leisten; an den bürgerlichen Lebensstil, den man aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gewöhnt war, aus der wilhelminischen Zeit: in jedem bürgerlichen Haushalt mindestens ein Dienstmädchen, zum Beispiel, diese Zeiten waren vorbei und das war auch eine traumatische Belastung der mittleren Schichten."

...die dann prompt den Nazis in die Arme liefen, die versprachen die "Arbeiter der Faust" und die "Arbeiter der Stirn" zu vereinen und gleichzeitig Nichtarier und sonstige Minderheiten als Schuldige für den Niedergang präsentierten.

Adolf Hitler: "Die Millionen Menschen, die Berufen zerrissen, in künstlichen Klassen auseinander gehalten worden sind, die von Standesdünkel und Klassenwahnsinn befallen, einander nicht mehr verstehen lernten, sie müssen den Weg wieder zueinander finden!"

Nolte: "Das war überhaupt so eine Sehnsucht vieler Gesellschaftsutopien seit dem späten 19 Jahrhundert, man wollte eine neue Gesellschaft schaffen, das gilt ja für den Marxismus auch, für die Bolschewiki in der russischen Revolution: Man wollte einen neuen Menschen schaffen, ihn durch Erziehung schaffen, auch wenn man ihm dabei Gewalt antat, und das haben die Nationalsozialisten ja auch versucht auf der Ebene des einzelnen Menschen, und auf der Ebene der ganzen Gesellschaft dann die faszinierende Vision einer möglichst homogenen Gesellschaft, was bedeutete eben andere auszuschließen. Das ist ja ein Mechanismus, dem der Stalinismus dann gefolgt ist oder die maoistische Kulturrevolution, andere, die da nicht reinpassen möglichst auszuschließen, das ist eben die große politische Gefahr, wenn die Gleichheit zu einem radikal politisch instrumentalisierten Ziel wird."

Der Krieg ist ein großer Gleichmacher. Anschließend ging es erst einmal darum, genug zu essen und ein Dach über dem Kopf zu haben, dann: wieder Wohlstand zu schaffen und das konnte man nur, wenn man einigermaßen am selben Strang zog. Nach seiner Wahl zum Bundeskanzler bat Konrad Adenauer, der die Weimarer Republik erlebt und den Nationalsozialismus im KZ überlebt hatte, auf dem Bonner Marktplatz die Bürger:

"Helfen Sie mir, dass wir diese Jahre des Wiederaufbaus in möglichster Eintracht und mit klarem Ziele auf dem geraden Wege zur Einheit Deutschlands, zur Befreiung der Ostgebiete, zum Frieden für Deutschland, zur Einigung Europas und zum Frieden in der ganzen Welt zurücklegen."
Er musste nicht lange bitten: Alle wollten nur raus aus dem Dreck. Es sollte, es konnte ja nur aufwärts gehen. Im Westen begann ein beispielloser Boom. Arbeit gab es mehr genug.1961 schon wurde ein Abwerbe-Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei unterzeichnet. Ahmed Erdogan und Gülgün gehörten zu den ersten, die damals nach Deutschland kamen, ohne Familie, mit nur rudimentären Deutschkenntnissen, aber das machte nichts:

Ahmed: "Deutschland war für mich so ein Erlebnis, als wir hierher kamen. Ich habe viele deutsche Freunde gehabt und die haben mir auch viel geholfen beim Deutsch lernen. Arbeiten war sehr gut. Man konnte immer Arbeit finden, war alles sehr billig: Wohnung und Lebensmittel, also war ganz prima."

Gülgün: "Ich bin mit dem Vertrag kommt. Arbeitsamt mich holen. Ich arbeiten fünf Jahre eine Autofirma und 26 Jahre Waggon Union, große Firma, Reisezugwagen und BVG!"
Für Deutsche in West und Ost waren die Aufstiegschancen gut, die Gesellschaft war so durchlässig wie nie zuvor. Noch einmal der Historiker Paul Nolte:

"Das hatte zunächst mit der Durcheinanderwirbelung der Gesellschaft - denken Sie an zehn, zwölf Millionen Vertriebene, die allein nach Westdeutschland gekommen sind, zu tun. In der DDR sind Aufstiegschancen geschaffen worden, einerseits absichtlich durch das politische System des Sozialismus, andererseits auch durch die Abwanderung vieler Gebildeter und Hochqualifizierter in den Westen sind Aufstiegschancen für die bis dahin weniger Qualifizierten entstanden.

Also, als letzter Faktor sicherlich noch ganz wichtig die Bildungsreform und überhaupt der sozialreformerische Impuls der 60er und 70er Jahre, so ein Instrument wie der Zweite Bildungsweg, der Kinder aus Facharbeiterfamilien dann auch zum Abitur und Studium, in akademische Berufe geführt hat, das ist alles ziemlich stark durchgeschlagen und vieles davon ist wieder stärker zum Stillstand gekommen."

Das Rezept im Westteil Deutschlands hieß "soziale Marktwirtschaft". Die Wirtschaft sollte so frei wie möglich agieren dürfen, wobei die Anhäufung von privater Macht durch Monopole zu vermeiden sei. Der Staat sollte für den sozialen Ausgleich sorgen.

"Die Verteilungspolitik ist ein eminent wichtiger Teil der Wirtschaftspolitik. Das Anliegen der sozialen Gerechtigkeit, kann nicht ernst genug genommen werden."

So sprach damals ein Neoliberaler, der Ökonom Walter Eucken, einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft. Es ging ihm allerdings ausdrücklich nur um das "Notwendige", nämlich die "Befriedung" der Gesellschaft, einen Kompromiss zwischen Freiheit und Gerechtigkeit. Die Wirtschaft sollte so frei wie möglich agieren können und Ludwig Ehrhardt behauptete sogar:

"Je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie auch..."

Im sowjetisch beherrschten Osten Deutschlands wurde auf Gleichheit und totale Lenkung gesetzt:

"Die Voraussetzungen dazu sind die wirtschaftliche und politische Entmachtung der großkapitalistischen und großgrundbesitzenden Kriegsverbrecher und die Überführung des Großgrundbesitzes und der Großindustrie in die Hände des werktätigen Volkes um ihm den entscheidenden Einfluss auf die Innen - und Außenpolitik und auf die Wirtschaft des Landes zu verschaffen."

... verkündete Wilhelm Pieck im September 1947 auf dem 2. Parteitag der SED. Die Zustimmung war zunächst groß.

Poppe. "Die Gleichheit in der DDR wurde propagiert als die höhere Gerechtigkeit und das war der entscheidende Systemvorteil. So lautete die Überzeugung der Herrschenden und das, muss ich sagen, habe ich zunächst weitgehend übernommen als Kind, weil ich das zumindest auch einsehen konnte, wobei diese Gleichheit ja unterschiedliche Dimensionen hat: Einmal die Gleichheit vor dem Gesetz, einmal die tatsächliche Gleichheit in den Lebensverhältnissen - und die war eigentlich nie erreicht - und dann die dritte Komponente: Chancengleichheit."

Die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe, 1953 in Rostock geboren, war ein Intellektuellenkind. Schon bald musste sie erfahren, dass das mit der Chancengleichheit einen Haken hatte:

"In der Zeit, als für mich die Frage anstand, ob ich zur Abiturstufe zugelassen werden kann, war es so - das war Ende der 60er Jahre - dass die Schule eine bestimmte Arbeiterquote erfüllen musste, und deshalb wurden die Arbeiterkinder bevorzugt trotz schlechterer Leistungen und ich sollte nicht auf die Oberschule kommen, obwohl meine Leistungen besser waren. Nach entsprechenden Eingaben durch meinen Vater, der in der Partei war, ist das dann schließlich erreicht worden. Aber das habe ich als Jugendliche als ziemlich ungerecht empfunden, dass die Arbeiterkinder bevorzugt waren. Besonders paradox war es in den Fällen, wo die Arbeiterkinder studieren durften und deren Kinder dann nicht mehr studieren durften, weil sie eben Intelligenzlerkinder geworden sind."

Zugang zu Bildung, Information, knappe Güter, begehrte Arbeitsplätze, alles wurde bekanntlich gelenkt und nach politischer Loyalität und nach der Zugehörigkeit zur Staatshierarchie verteilt.

"Ich und viele meiner Freunde, als wir jung waren, haben wir uns eher nach noch mehr Gleichheit gesehnt, also wir haben zum Beispiel uns interessiert für so ein Modell wie der Kibbuz in Israel, wo tatsächlich der Versuch unternommen wurde, die Kinder unter absolut gleichen Verhältnissen aufzuziehen. Und darüber haben wir schon viel diskutiert, ebenso über die Versuche der utopischen Sozialisten, also eine Gesellschaft zu schaffen, in der wirklich jeder gleich ist. Aber irgendwann haben wir uns von diesen Utopien verabschiedet und haben eher empört reagiert auf die ständigen Lügen."

Die Diskussion um "Demokratie nach Kassenlage" kann Ulrike Poppe nicht verstehen:

"Es gibt massenhaft Unrecht, da braucht man sich ja nur umzugucken, es gibt immer mehr, die in Armut abgleiten, wobei das noch mal 'ne Extradiskussion wert ist, wo ist der Staat in der Pflicht und wieweit kann er intervenieren, ohne zu entmündigen, das sind alles Fragen, die ständiger Diskussion bedürfen, aber wir sind ein Land, in dem solche Diskussionen möglich sind, In der DDR waren sie nicht möglich."

Irgendwie scheint es sich eingeschlichen zu haben, das mit der Armut. Begonnen hat die Entwicklung schon vor 30 Jahren: Nach einer langen und angenehmen Phase der Vollbeschäftigung kam 1974 der erste Schock: Massenarbeitslosigkeit.

Helmut Schmidt: "Es war ein schwieriges Jahr. Weltinflation und Welterdölkrise haben in allen Industrieländern der Erde große wirtschaftliche Schwierigkeiten verursacht. Auch bei uns hat es zum ersten Mal seit sieben Jahren Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit gegeben."

Helmut Schmidt in seiner Neujahrsansprache 1974/75. Die Arbeitslosigkeit sollte von nun an unsere ständige Begleiterin werden. Unterbrochen nur von kurzen Phasen der Konjunkturerholung, setzte hier bereits eine Entwicklung zu mehr Ungleichheit ein. Aber noch fühlte sich die breite Masse bei uns nicht betroffen. Mussten 1962 noch elf Prozent der bundesdeutschen Familien mit Einkommen unterhalb der relativen Armutsgrenze auskommen, waren es Mitte der 70er Jahre nur noch knapp 8 Prozent - so genannte und so empfundene "Randschichten"....

Margaret Thatcher war die erste, die harte Einschnitte vornahm: Sie begann ab 1779 mit der Zerschlagung der Gewerkschaften, Sozialabbau und Liberalisierung der Wirtschaft. Arm und reich im Inselreich drifteten spürbar auseinander.

In Deutschland versuchte man zunächst die sozialen Errungenschaften zu halten. Der Abbau fand leiser und zunächst an anderer Stelle statt. Dennoch wuchs die Unzufriedenheit. Die Soziologin Barbara Riedmüller sieht die Gründe dafür in der zunehmenden Undurchlässigkeit der bundesdeutschen Gesellschaft:

"Glück ist, meine Möglichkeiten auszuschöpfen und nach meiner Façon zu leben. Dann stelle ich doch fest, dass wir in einer sehr statischen Gesellschaft leben, die das den Menschen sehr schwer macht, sich zu verwirklichen, weil erstaunlicherweise nach einer Phase der Bildungsexpansion und auch der Mobilität das wieder starrer geworden ist und Zugänge beschränkt werden, Selektionen fast zunehmen nach Bildung und nach Herkunft. Ein Beispiel ist unser Schulsystem und so weiter, wo also Kinder wenig Chancen haben, sich zu verwirklichen, weil sie in einem Alter selektiert werden, wo sie noch gar nicht selbstbestimmt handeln können, wo sie die Entscheidung darüber, ob Bildung für sie wichtig ist, noch nicht selber fällen und das ist für die eine katastrophale Entwicklung."

Wenn die guten Positionen rar werden, war es im Interesse der Mittelschicht, diese Positionen zuerst an ihre eigenen Kinder weiterzugeben...

Riedmüller: "Das ist in Deutschland tendenziell immer der Fall gewesen, dass die bürgerlichen Eliten das Schulsystem ihrer Kinder abgeschottet haben und die Zugänge blockiert haben. Diese Schichten haben auch die Bildungsexpansion nicht begrüßt und haben auch die Öffnung der Universität nicht begrüßt. Die fanden das eine Fehlentwicklung und finden heute wichtiger, dass wir wieder Eliten bilden."

Barbara Riedmüller setzt sich an der Freien Universität Berlin besonders für die Bildungschancen von jungen Leuten mit Migrationshintergrund ein - damit bei uns nicht passiert, was in Frankreichs Vorstädten geschehen ist. Herr Erdogan und Herr Gülgün haben ihre guten Jobs längst verloren, betreiben kleine Läden in einem Berliner Multikulti-Ghetto und finden Deutschland sehr verändert:

Ahmed: "Ja, weil die in Deutschland sind, werden nicht anerkannt. Das finde ich ein bisschen traurig, weil es gibt in jedem Land Klassenunterschiede, auch vom Beruf her und viele, die hier leben und (sich) angepasst haben, die werden auch nicht anerkannt. Das finde ich nicht gut."

Gülgün: "Letzte 10, 15 Jahre, da ist Deutschland kaputt! Leute kaputt, alle Alkoholiker, ehrlich! Die jungen Leute noch schlimmer: Türken, Araber, Deutsche, alles egal. Keine Lust Arbeit, keine Lust Schule, alles! Können Sie nicht nachts spazieren gehen, gefährlich! Ganz gefährlich! Früher war zusammensetzen, zusammen arbeiten, alle überall freundlich machen, aber jetzt: keinen Guten Tag sagen, Nachbar interessiert nicht..."

Die deutsche Gesellschaft, die ihn vor 35 Jahren nicht schnell genug herholen konnte, hat Angst vor seinen Kindern und Enkeln. Ungleichheit auch hier: In der Kultur und in den Chancen.

Riedmüller: "Umso festgezurrter die Hierarchie ist, desto ekliger werden die Leute."

In den 90er Jahren stiegen die Arbeitslosenzahlen auf nie gekannte Rekordhöhen: 1993 waren erstmals über drei Millionen Menschen auf "Stütze" angewiesen; 1997, am Ende der Ära Kohl, waren es vier Millionen. Das gesellschaftliche Klima wurde auch in Deutschland unbarmherziger. Man begann von der "sozialen Eiszeit" zu sprechen. Der "faule Arbeitslose" hatte Konjunktur:

Friedrich Merz: "Natürlich gibt's ein Recht auf Faulheit, nur gibt es kein Recht auf Faulheit zu Lasten der Allgemeinheit."

...setzte Friedrich Merz auf ein Schröder-Bonmot auf. Medien jagten den faulen Arbeitslosen, erwischten ihn in Florida, wo er es sich angeblich gut gehen ließ - hilflose Abgrenzungsversuche einer von Absturzängsten und schlechtem Gewissen gebeutelten Mittelschicht.

Inzwischen kennt beinahe jeder in seinem Bekanntenkreis Arbeitslose und weiß, dass die neue Armut weder nur Faule, noch eine Randschicht betrifft.

Dazu noch zwei Zahlen aus der Beilage zur Wochenschrift "Das Parlament" vom August:

"Im April 2007 bezogen 7,4 Millionen Deutsche Leistungen aus der Grundsicherung. Drei Viertel aller Niedriglohnbeschäftigten verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen akademischen Abschluss."

Die Harz-Gesetze schafften vorübergehend Erleichterung, aber die Konzentration auf "Jobs um jeden Preis" schuf neue Ungleichheiten.

Riedmüller: "Das ist nicht einfach nur passiert oder 'Folge der Globalisierung', was man der Globalisierung alles zuschreibt, sondern das ist ja in den Ländern unterschiedlich, und in Deutschland ist es so, dass man auch durch die Arbeitsmarktreformen, durch die Schaffung von Minijobs und 1-Euro-Jobs dieses Segment selbst mitgeschaffen hat. Das ist natürlich fatal! Da hat man viele Menschen in einen Topf geschmissen und da sitzen sie jetzt, ne?"

Das Streben nach Glück - in der amerikanischen Verfassung gehört es zu den Grundrechten des Menschen. Zum Glück gehört allerdings mehr als Geld, vor allem, wenn eine gewisse materielle Grundversorgung einmal erreicht ist. Am Wissenschaftszentrum Berlin läuft eine Untersuchung, die den Grad des "well being", des Glücklichseins in verschiedenen europäischen Ländern untersucht und verglichen hat. Darin kommt der Soziologe Ulrich Kohler zu dem Schluss....

Kohler: "... dass in den reichen Ländern typischerweise das Einkommen und viele dieser materiellen Bestandteile eine kleinere Bedeutung bekommen, dagegen aber Familie, Sozialleben bedeutender wird für das Glück."

Und seine Kollegin Petra Böhnke schreibt:

"Es geht um die Möglichkeit der Menschen, in das gesellschaftliche Leben integriert zu sein, und das umfasst die Gewährleistung eines allgemein akzeptierten Lebensstandards ebenso wie die Einbindung in soziale Netze und gesellschaftliche Partizipation."

Ein Beispiel: Die Friseurin Stefanie verdient 1000.- Euro im Monat...

Stefanie: "Da kommt man durchs Trinkgeld gut mit durch, wenn man kein Auto hat und keine großen Ansprüche stellt."

Wenn die Kundin mit dem Porsche vorfährt, ist Stefanie nicht neidisch.

"Liegt ja an mir. Ich könnte mich ja selbstständig machen, könnte damit versuchen, mehr rauszuholen, möchte ich aber nicht, weil mir die Freizeit mehr wert ist und ich denke für meine Verhältnisse, für meinen Beruf ist es noch ganz in Ordnung zur heutigen Zeit.

Mich macht zufrieden, wenn ich gerne zur Arbeit gehe und es mir noch Spaß macht und nicht nur, dass ich es wegen des Geldes mache; wenn's privat, wenn ich da zufrieden bin, also, sprich: Liebe; und wenn ich die Freizeit so gestalten kann, dass es mir was bringt, dass ich mir noch bestimmte Sachen leisten kann, die Spaß machen, halt eben zum Sport gehen oder zum Ballet oder mal ins Kino oder essen gehen, mit Freunden zusammen sein und reisen natürlich! Das ist das wichtigste, darauf arbeite ich hin jedes Jahr."

Vor der Altersarmut hat Stefanie Angst, aber im Augenblick ist sie mit ihren 1000 Euro glücklich. Ihr Leben ist kalkulierbar, sie fühlt sich in ihrem Freundes- und Kollegenkreis anerkannt.

Die Spaltung der Gesellschaft geht mit einer wachsenden Unzufriedenheit einher. Die Soziologen Petra Böhnke und Ulrich Kohler befragten Menschen in Deutschland nach ihrer persönlichen Einschätzung - also nach ihren Gefühlen und fanden heraus, dass 1998 noch sechs Prozent angaben, unzufrieden mit ihren Teilhabechancen zu sein - 2003 waren es bereits 10 Prozent. Dabei ging es weniger um Konsummöglichkeiten, sondern - so die Forscher - sie fühlten sich abgehängt und das kann auch für das Gemeinwesen nicht gut sein:

Kohler: "Wenn wir uns die Bildungsungleichheit anschauen, hier haben wir ja über Generationen hinweg ein starke Ungleichheit in sofern, dass die unteren Bildungsschichten ihre Kinder nicht in höhere Bildungsgruppen bekommen, da können wir ganz ökonomisch argumentieren, das ist für einen Staat nicht gut. Der schöpft seine Ressourcen, die er hat an Talenten und Qualitäten, die in diesen unteren Gruppen drin sind, die schöpft er nicht aus. Ob das dauerhafte Verharren in unteren Bevölkerungsgruppen zu einer Radikalisierung führt, ist eine offene Frage. Es kann sein."

Riedmüller: "Was gefährlich ist, ist eine Gesellschaft, wo sich - und da ist allerdings auch die Datenlage so - dass wir eine Zementierung von Armut haben. Die liegt so um die zehn Prozent und da gibt's keine Bewegung heraus. Und diese Gruppe ist kontinuierlich größer geworden und wenn die weiter ansteigt, halte ich das für bedrohlich für die Gesellschaft. Das, was da stattfindet, dass das ein dauerhafter Zustand ist, dass die Leute nicht mehr rauskommen und deren Kinder drin bleiben, was man dann mit dem Begriff vererbte Armut klassifiziert, das ist bedrohlich: auch bedrohlich für die anderen, weil sie ein wachsendes Segment haben, dass sie a) ökonomisch subventionieren müssen, und b) das bedrohlich wirkt. Kriminalität nimmt zu, Alkoholismus, Drogen und diese ganzen Phänomene."

Eine Gesellschaft ist in Schwierigkeiten, wenn sie nicht in der Lage ist, ihre eigenen Verheißungen zu erfüllen. Wir stehen heute an einem Wendepunkt. Wenn es uns nicht gelingt, die Unterschiede zwischen arm und reich in vernünftigen Grenzen zu halten, gehen wir amerikanischen Verhältnissen entgegen. Oder - um es mit einem modischen Ausdruck zu sagen, der Brasilianisierung: Reiche, die sich einigeln, Arme, die sich untereinander bekämpfen, Kriminalität, Verlust an Freiheit und demokratischen Grundrechten, an Innovationskraft, allgemeiner Verlust von Lebensqualität. Menschliche Gesellschaften "vertragen" jede Menge Ungleichheit. Die Frage ist nur, ob man in einer solchen Gesellschaft leben will.