Das Spiel mit den Urängsten

Der moderne Klassiker des Unheimlichen ist Howard Phillips Lovecraft. Ihm gelingt es, alle Sinne einzubeziehen: Bestialische Gerüche spielen in fast jeder Geschichte eine wichtige Rolle, ebenso eine Vielfalt von Geräuschen, bei denen sich die Nackenhaare sträuben. Der Suhrkamp-Verlag hat nun einen Band mit hochkarätigen Lovecraft-Geschichten herausgegeben.
Warum Horrorgeschichten lesen? Ist die Welt nicht schon schrecklich genug? Für Kenner ist das eine dilettantische Frage. Wie bei Krimis geht es auch in der Horrorliteratur um Urängste des Menschen, mit denen, mehr oder weniger gekonnt, gespielt wird.

Darüber hinaus ist der Horror- oder Schauderroman eine Antwort auf die Entzauberung der Welt durch die Aufklärung. Sie hat Götter und Fabelwesen, das Wunderbare und Unerklärliche ausgetrieben und nur eine materielle, wissenschaftlich erfassbare Welt übrig gelassen.

Horrorliteratur ist deshalb implizit eine moderne Kritik an der Moderne – Lesestoff für das postmetaphysische Zeitalter. Denn sie statuiert weiterhin eine zweite Wirklichkeit hinter den Fassaden des aufgeklärten Alltags; sie bricht mit unfassbaren Schrecken ein in die scheinbar wohlgeordnete, metaphysisch gesäuberte Welt und zeigt, dass diese längst nicht alles ist.

Der moderne Klassiker des Unheimlichen ist Howard Phillips Lovecraft. Zwar wurde ihm nie der erhabene Rang eines Edgar Allan Poe zugestanden, auch sind seine Auflagen nicht mit denen von Stephen King zu vergleichen. Dennoch wirkt Lovecraft bei Lesern tief – und auch bei vielen Autoren. Zahlreiche Metal-Bands fühlen sich bei der Produktion ihres unterweltlichen Getöses ebenfalls durch diesen Autor inspiriert. „Metallica“ beispielsweise hat einen Song nach einer von Lovecrafts legendären Geschichten „Call of Ktulu“ genannt.

Wolfgang Hohlbein ist der bedeutendste Nachfolger Lovecrafts im deutschsprachigen Raum; in einigen seiner Werke hat er direkt an den Meister angeknüpft. Der Suhrkamp-Verlag hat ihn nun eingeladen, einen Band mit hochkarätigen Lovecraft-Geschichten herauszugeben. Hohlbein hat auf die Klassiker vertraut. In acht glänzend übersetzten Erzählungen erschließt sich die ganze Palette von Lovecrafts Können: traditionelle Schauerromantik, albtraumhafte Fantastik und eine eigenwillige, differenziert ausgearbeitete Mythologie des Bösen.

In der frühen Erzählung „Die Ratten im Gemäuer“ perfektioniert der Autor E.A. Poes Manier des Grauens. Im Gegensatz zu Poe tendiert bei Lovecraft der Schrecken jedoch bald ins Universale. Die späte Novelle „Berge des Wahnsinns“, beinahe so umfangreich wie ein Roman, weitet das Horror-Genre in Richtung Science Fiction und soziale Utopie aus.

Regelmäßig kommt bei Lovecraft das Übel aus der Tiefe. Da lauern namenlose Schrecknisse in Kellern, in der Finsternis von Grotten und Schächten brodeln die Emanationen des Bösen; unter dem Eis der Antarktis oder in der Schwärze der Tiefsee haben vorzeitliche Monstren überwintert und warten auf ihren Tag.

Entscheidend für Horrorliteratur sind Kontrastwirkungen. Lovecraft erzielt sie schon durch seine Ich-Erzähler. Keineswegs überspannte Zeitgenossen, sondern sehr rationale, oft wissenschaftlich vorgebildete Protagonisten, deren Weltbild im Verlauf der Erzählung Schritt für Schritt aus den Fugen gerät. Auch die Sprache Lovecrafts, geschult an Stilidealen des 18. und 19. Jahrhunderts, bildet einen Gegensatz zu den infernalen Auflösungskräften des Horrors. Es ist ein geradezu altmodisch gediegener Erzählduktus mit komplex gebauten, beredsamen Perioden.

Erstaunlicherweise wird einem gerade im Vergleich mit dem Horrorkino Lovecrafts Können bewusst. Während der Film vor allem auf optische Abscheulichkeit vertraut, bezieht Lovecraft alle Sinne in seine Kompositionen des Schreckens ein: Bestialische Gerüche spielen in fast jeder Geschichte eine wichtige Rolle, ebenso eine Vielfalt von Geräuschen, bei denen sich die Nackenhaare sträuben.

Sehr geschickt beherrscht der Autor die Mittel von Klimax und Verzögerung; gekonnt fügt er an spannenden Stellen reflektierende Passagen ein und ergeht sich immer wieder in suggestiven Andeutungen. Konsequent arbeitet er mit Ich-Erzählern. Auf diese Weise ist ihm die verstörte Innenwelt der Menschen zugänglich. Mit allen Schattierungen des Grauens, vom leisen Wanken der vertrauten Lebenskoordinaten bis zum manifesten Wahnsinn.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Howard Philips Lovecraft: Horror Stories.
Das Beste vom Meister des Unheimlichen ausgewählt von Wolfgang Hohlbein

Aus dem Amerikanischen von H.C. Artmann, Charlotte Gräfin von Klinckowstroem und Rudolf Hermstein
Suhrkamp Verlag 2008
520 Seiten, 9,90 Euro