Das Spiel der Heuchler

Von Elske Brault |
In Molières Gesellschaftssatire "Der Menschenfeind" sind alle Heuchler. Die Schauspieler lügen perfekt mit ihrem Gesicht, quasi bis in die Wimpernspitzen. Tangomusik und -tanz begleiten den Zuschauer durch die Hamburger Inszenierung von Andreas Kriegenburg. Das in Bewegung gegossene Balzritual visualisiert das Liebesdrama im Stück.
Tangomusik und -tanz begleiten den Zuschauer durch diesen Abend. Das lässt an den südamerikanischen Latin Lover denken, seine Grandezza, aber auch hohle Pose, und illustriert perfekt Molières Gesellschaftssatire.

Zugleich visualisiert das in Bewegung gegossene Balzritual das Liebesdrama im Stück: Der Menschenfeind Alceste, im Kampf gegen die Heuchelei und Oberflächlichkeit der ihn umgebenden Gesellschaft mit allen zerstritten, liebt ausgerechnet die geltungssüchtige Célimène, die alle betrügt, weil sie allen gefallen will.

Die beiden umgarnen einander tanzend vor zwei riesigen Videoleinwänden, die nach hinten die Bühne abschließen. Dort erscheinen überlebensgroß die Gesichter der zwei Menschen, die sich jeweils miteinander im Dialog befinden, zum Beispiel Alceste und sein Gegner Oronte.

Die enorme Vergrößerung ist ein Verfremdungseffekt, der es Regisseur Andreas Kriegenburg leicht macht, die Spieler zu kennzeichnen. Alexander Simon als Oronte
ist sonst ein attraktiver Mann, häufig als Verführer besetzt: Doch hier muss er ein Eibrot essen, während er spricht. Oronte speichelt und sabbert, übergroß sehen wir die Eistückchen, die ihm aus dem Mund spritzen, an den Zähnen hängen und zwischen den Lippen. So ist er uns auf Anhieb widerlich.

Auch bei Alceste kann man die Bartstoppeln einzeln zählen, hier funktioniert die Sache genau anders herum: Darsteller Jörg Pose kennen wir als manierierten Spieler, der stets neben seiner Rolle steht. Nie schleudert er Gefühle gerade heraus. Aber wenn die Videokamera sein unterkühltes Spiel unter die Lupe nimmt, entdecken wir in winzigen Zuckungen des verschlossenen Gesichts ehrliche Empfindungen. Die Kamera scheint hier wirklich die Seele der Spieler offen zu legen.

Und doch sind alle Heuchler. Die Schauspieler lügen perfekt mit ihrem Gesicht, quasi bis in die Wimpernspitzen. Dies gilt vor allem für Judith Hofmann als Célimène: Ob sie mit Alceste nur ihr Spiel treibt oder ihn tatsächlich liebt, bleibt bis zum Schluss offen.

In jedem Fall ist sie in Kriegenburgs Interpretation eher ein Opfer, eine Getriebene: Am Ende fordern die übergroßen Köpfe von Alceste und Oronte sie wechselseitig auf, sich endlich zwischen beiden zu entscheiden. Judith Hofmann läuft vor den Leinwänden hin und her, zunehmend erschöpft, übergießt sich mit Wasser, schreit schließlich als verzweifelte kleine Ameise an gegen die Forderungen der beiden gottgroßen Über-Männer, ein letzter Versuch der Selbstbehauptung und Selbstbestimmung angesichts übermächtiger Ansprüche von beiden Seiten.

Doch so reizvoll die Interaktion zwischen den Gesichtern auf der Leinwand und den lebenskleinen Darstellern davor teilweise ist, so geschickt Video und Tango hier verschränkt werden: Die Videoprojektion bleibt ein Mittel, das, ausufernd angewendet wie hier, dem Theater sein Bestes nimmt: Die Un-Mittel-Barkeit.

Natürlich, die Spieler sprechen live, aber sie tun das hinter der schützenden Videowand. Sie bleiben auf Distanz, im stillen Kamera-Kämmerlein. Um wie viel aufregender ist es, wenn Judith Hofmann die Barriere zum Publikum durchbricht und einen Zuschauer umarmt, sich einem anderen auf den Schoß setzt: Da ist er, der wunderbare Zauber und Schrecken des Theaters, die Live-Bedrohung, es könne einer das Notizbuch entreißen.

Die wunderbaren Darsteller, aber auch das Regieteam wurden am Ende mit Beifall überschüttet. Kein Zweifel, Andreas Kriegenburg hat sich mit einem angemessenen Ausrufezeichen aus Hamburg verabschiedet. Die Fragen, die seine Inszenierung aufwirft, gingen am Premierenabend im Jubel unter.