Das Spannungsverhältnis von Geschwistern

15.09.2011
Onkel Paul ist tot, aber die Frauen der Familie konkurrieren weiter um die bevorzugte Position im Leben des Verstorbenen. Im Zwiegespräch der Nichten enthüllt sich Pauls manipulatives Genie. Scharfsichtig und ironisch demontiert Gila Lustiger auch die Selbsteinschätzung ihrer weiblichen Figuren.
Paul zog nach 34 Ehejahren mit Anne zum Sterben in das Haus seiner Schwester. Es war beider Elternhaus, doch sein Erbbesitz. Paul hatte es seiner Schwester und ihren zwei Töchtern zum Wohnen überlassen, nachdem die Ehe der Schwester zerbrochen war. Er benötigte nur einen Tag, um das Haus zu "konfiszieren" und die Erinnerungen der anderen "auszuradieren". Drei Monate bis zu seinem Tod sollte alles nach seinem Befinden ausgerichtet sein.

Gila Lustiger platziert die Nichten im Zimmer neben der aufgebahrten Leiche des Onkels und lässt sie in der Rückschau rekapitulieren, warum sie zeitlebens wie Satelliten um den Fixstern Paul kreisten und ihre eigene Existenz als belanglos und unzureichend ansahen. Schicht um Schicht entblößt die Autorin in Gesprächen der ungleichen Schwestern den Dünkel der Familie Bergmann, und genüsslich reißt sie den breiten Schutzwall des guten Geschmacks ein, mit dem das gehobene Bürgertum sich gegen gewöhnliche Leute abzugrenzen verstand. So sehr hatten die Nichten das Gebot verinnerlicht, etwas Besonderes zu leisten und darzustellen, dass sie das banale Dahinscheiden des Schwerkranken als grobe Provokation empfinden mussten.

Woran denkst du jetzt? Mit dieser Frage überrumpelten und amüsierten sich die Schwestern als Kinder. Nun wird sie als Technik eingesetzt, um einander Geständnisse zu entlocken. Die Penetranz lässt alte Rivalitäten aufbrechen. Anrührend vergegenwärtigt Lustiger die Einsamkeit der älteren Schwester, die ein grunderschütterndes Geheimnis hütete. Sie hatte als Jugendliche beobachtet, wie die Mutter ihren Liebhaber in einem Café traf. Unverhohlen stellten beide ihr Begehren zur Schau. Der Tochter aber fehlte der Mut, die naheliegende Frage zu stellen: "Warum betrügst du meinen Vater?" Die Frage hätte das Leben der Tochter verändert. Lustiger zeigt, warum für sie nur eine "verhunzte" Jugend blieb.

Nicht Mutter und Vater wurden geliebt, sondern der fürsorgliche Onkel. Und warum verließ er sein Zuhause und machte seine Schwester zur Sterbebegleiterin? Weil sie nie tapfer, nie mutig oder optimistisch war und man in ihrer Gegenwart nicht um einen Aufschub an Lebenszeit kämpfen musste. Während die Protagonistinnen des Romans über das Sterben sprechen, erkennen sie die Leitlinien ihres eigenen Lebens, ihr Temperament, ihre Eigenheiten.

Gila Lustiger ist ein zärtlich-wehmütiger, intimer Roman gelungen. Mit feiner Ironie und Sinn für Komik tariert sie das Spannungsverhältnis von Geschwistern aus und macht aus Konkurrentinnen allmählich wieder Komplizinnen, die erkennen, dass man kleine Flunkereien braucht, um die blendende Schönheit des Lebens zu ertragen wie auch den Schmerz über die unabwendbare Vergänglichkeit.

Besprochen von Sigrid Brinkmann

Gila Lustiger: Woran denkst du jetzt
Berlin Verlag, Berlin 2011
160 Seiten, 18,95 Euro

Links bei dradio.de
"Mein Europa der Einwanderer" - Teil 12: Die Schriftstellerin Gila Lustiger
Auf unsicherem Terrain
Mehr zum Thema