"Das sind voll verantwortliche Menschen, das sind Verbrecher"

Manfred Lütz im Gespräch mit Gabi Wuttke · 15.12.2011
Der sogenannte Amokläufer von Lüttich sei "gesund" gewesen, meint der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Manfred Lütz. Je schrecklicher ein Verbrechen sei, desto eher werde angenommen, dies müsse ein Verrückter getan haben.
Gabi Wuttke: Es gibt Verletzte, die noch immer um ihr Leben kämpfen, in Lüttich nach dem Massaker, an dessen Ende sich der Täter mit einem Revolver das Leben nahm. Vorbestraft war der Mann, der 125 Menschen verwundete und mindestens sechs tötete - mit Granaten und einem Sturmgewehr -, kurz bevor der 33-Jährige bei der Polizei hätte erscheinen müssen, nachdem er wegen Sexualdelikten und Drogenanbaus bereits fünf Jahre im Gefängnis gesessen hatte.

Am Telefon ist jetzt Manfred Lütz, der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist Chef des Alexianer-Krankenhauses in Köln. Seelenkunde ist auch das Thema seines Sachbuchs "Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen". Guten Morgen, Herr Lütz.

Manfred Lütz: Guten Morgen!

Wuttke: Der Täter ist ein Mörder. Als was würden Sie ihn darüber hinaus bezeichnen?

Lütz: Ich glaube in der Tat, dass er ein Mörder ist, ein Verbrecher sozusagen, und er ist im Sinne des Buchtitels, den Sie eben genannt haben, am ehesten ein Normaler.

Wuttke: Warum?

Lütz: Die Leute reagieren heute häufig so: je schrecklicher ein Verbrechen ist, desto eher denkt man, das muss ja ein Verrückter gewesen sein. Und das ist genau ein Fehlschluss. Das heißt, Massenmord zu begehen, da muss man seine Tassen schon ziemlich im Schrank haben. Man muss sich sehr konzentrieren und so weiter, so zynisch das jetzt fast klingt. Keiner meiner Patienten würde so etwas tun. Es ist etwas Schreckliches, und uns klar zu machen als Gesellschaft, das ist ein Verbrecher, das Böse, das da sozusagen aufscheint, das versuchen wir ein bisschen zu beruhigen, indem wir sagen, das ist ja keiner von uns, das ist ein Verrückter. Das stimmt aber nicht.

Wuttke: Was macht denn sozusagen den Gesunden dann aus?

Lütz: Ich glaube, dass der Mann gesund ist. Natürlich können wir jetzt nur sehr indirekt reden. Ich kenne nicht eine Krankengeschichte von dem oder irgendwas Genaueres. Ich weiß das, was man aus der Presse halt im Moment weiß. Aber der ist ja möglicherweise auch gar nicht drogenabhängig. Der hat Cannabis angebaut, der ist ein bekannter Verbrecher gewesen, der Waffengeschäfte gemacht hat und Ähnliches und Waffen gesammelt hat. Aber aus all dem, was ich in der Presse gehört habe, spricht nichts dafür, dass er krank ist.

Wuttke: Das heißt aber, Sie nehmen ihn als Täter nicht in Schutz?

Lütz: Ich nehme ihn als Täter nicht in Schutz. Also wir müssen wirklich sehr aufpassen! Es gab diesen Fall Breivik in Norwegen. Da muss man sagen, das ist wirklich eine Ausnahme gewesen. Da habe ich damals sofort schon gesagt, das klang sehr nach einer wahnhaften Störung. Der hatte höchst skurrile, wahnartige Ideen. Aber das ist eher eine Ausnahme. Die Attentäter vom 11. September in New York, oder die RAF-Terroristen, oder auch der Fall jetzt in Lüttich, das sind voll verantwortliche Menschen, das sind Verbrecher.

Wuttke: Spätestens seit dem Massaker an der Columbian High School geht ja das Wort des Amokläufers um. Ist das im Fall des Lütticher Mörders aus Ihrer Sicht als Psychiater korrekt?

Lütz: Amokläufer ist eigentlich kein psychiatrischer Begriff. Da muss man eben auch sehr aufpassen.

Wuttke: Das ist ja die Sache der Planung und der Nichtplanung.

Lütz: Und es hat ja hier offensichtlich eine gewisse Planung einfach stattgefunden. Er ist ja mit mehreren Waffen losgezogen. Ob man das jetzt Amoklauf nennt oder nicht, ist letztlich eine sekundäre Frage, das ist eine Definitionsfrage. Aber es ist jedenfalls kein Krankheitsbild, was wir da sehen.

Wuttke: Das heißt, es ist nicht wichtig, ob jemand jahrelang seine Tat plant, sondern wenn er dann seinen persönlichen Waffenschrank aufmacht, dann ist das sozusagen auch für Sie schon eine Planung und hat nicht mehr diesen Affektcharakter, wobei es natürlich immer noch völlig unklar ist, was diesen Mann zu dieser furchtbaren Tat getrieben hat.

Lütz: Es gibt ja im Moment nur Vermutungen. Man muss da mit Spekulationen einfach aufpassen. Aber im Zweifel ist jemand gesund, das muss mal gelten, und es spricht hier nichts dagegen, dass der gesund gewesen ist, und wir müssen uns einfach mit dem Gedanken beschäftigen, dass Menschen Verbrechen begehen können. Unsere Gesellschaft neigt dazu, das ein bisschen auszublenden und das dann mit so pseudopsychologischen Erklärungen auszufüllen. Natürlich kann ich letztlich alles psychologisch irgendwie herleiten, aber das bedeutet noch nicht, dass ich es entschuldige.

Wuttke: Was ist denn dann aber das Irre, von dem Sie auch in Ihrem Buch schreiben? Ist das eine unantastbare Definition, oder verändert ihn die Gesellschaft, weil sie sich ja selbst auch immer, jetzt mal im wörtlichen Sinne, verrückt?

Lütz: Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass in der Tat wir eine zentrale Gruppe von schweren psychischen Erkrankungen haben, die auch zur Schuldunfähigkeit führen können. Das heißt, wenn jemand tatsächlich eine Stimme hört, die ihm befiehlt, irgendetwas zu tun, und er das tut, aufgrund dieser Erkrankung, dann ist das bei diesen Patienten, wenn die anschließend behandelt werden, manchmal so, dass die Wochen später entsetzt sind, wirklich entsetzt sind, auch einfühlbar entsetzt über das, was sie da getan haben.

Das heißt, der Täter leidet fast genauso wie die Opfer in dieser Situation. Das ist eine völlig andere Situation, als wenn jemand sagt, mein Leben ist bisher nicht gut gelaufen und ich bin jetzt schon mal im Knast gewesen, ich möchte nicht noch mal in den Knast, da bringe ich mich lieber um und nehme noch einige mit. Man muss ja mal sagen, dass das nicht ein völlig irrationaler Gedanke ist, so schrecklich das jetzt klingt. Wenn jemand sowieso mit seinem Leben abgeschlossen hat, dann sind auch manche moralischen Schranken nicht mehr da.

Wuttke: Über 130 Menschen da mit reinzuziehen?

Lütz: Ich meine, das ist keine Frage der Quantität dann. Wenn jemand sagt, für mich ist alles aus und nach dem Tod gibt es überhaupt nichts, den lieben Gott gibt es auch nicht und ich bin die letzte Instanz sozusagen, und er schließt mit seinem Leben ab, dann kann das durchaus eine gefährliche Situation konsternieren, und da geht es dann nicht mehr um einen Mord oder um 130 Morde.

Wuttke: ... , sagt Manfred Lütz. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist Chef des Alexianer-Krankenhauses in Köln und Mitautor des Seelenkundebuches "Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen", zu hören im Interview in Deutschlandradio Kultur. Besten Dank, Herr Lütz.

Lütz: Bitte schön! Alles Gute.

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