Das Schweigen des Müllmanns

30.10.2012
Bis zu ihrem Tod im Februar 2012 arbeitete Wislawa Szymborska an den Gedichten, die in diesem Auswahlband erstmals auf deutsch erscheinen. Nochmals verblüfft ihr Prinzip der Skepsis und des ganz genauen Hinsehens.
Wislawa Szymborska scheute zeit ihres Lebens das große Publikum und ging dem Kulturbetrieb aus dem Weg, so gut es ging. Seit die Dichterin am 1. Februar 2012 88-jährig starb, kommt sie in Polen kaum aus den Schlagzeilen. Kein Medium, das nicht Berichte des bis dahin äußerst diskreten Privatsekretärs Michal Rusinek über die letzte Tasse Kaffee und die letzte Zigarette mit der Sterbenden in ihrer Krakauer Wohnung verbreitet hat. Immer wieder als Sensation aufgemachte Funde aus dem Nachlass. Seit Anfang Oktober hat zudem unter intensiver Beobachtung der Medien die nach dem Willen der Verstorbenen aus ihrem Erbe eingerichtete Wislawa-Szymborska-Stiftung ihre Arbeit aufgenommen. Sie soll Schriftsteller und Übersetzer in prekären Lebensumständen fördern.

Bedeutung für Szymborskas Werk im engeren Sinne haben vor allem die im April durch den Krakauer A5-Verlag publizierten Gedichte, an denen die Autorin in der letzten Zeit vor ihrem Tod arbeitete. Etliche Texte aus diesem Band unter dem Titel "Wystarczy" (auf Deutsch: "Es ist genug") sind nun in deutscher Übertragung bei Suhrkamp erschienen, gemeinsam mit früheren Gedichten, darunter einigen, die bereits auf deutsch vorlagen. "Glückliche Liebe" lautet der Titel des neuen Bandes.

Die viele Jahrzehnte umspannende Auswahl macht deutlich, wie stark sich die Autorin in Stil und Methode bis zu ihrem Tod treu blieb. In Szymborskas Werk herrscht die Lust am Zweifel, der Drang, alles in Frage zu stellen bei klarem Eingeständnis des eigenen Nichtwissens. Seit ihrer kurzzeitigen Verstrickung in den stalinistischen Literaturbetrieb der frühen 50er-Jahre verabscheute die Dichterin unwiderlegbare Wahrheiten, zerstörte sie systematisch und doch in jedem einzelnen Fall überraschend. Es ist das Prinzip der Skepsis, des ganz genauen Hinsehens, mit dem sie auch in diesem neuen Band den Leser verunsichert und in den Bann schlägt. So geschieht es zum Beispiel mit der "Glücklichen Liebe" in dem gleichnamigen Gedicht. Die Lyrikerin polemisiert nach Kräften gegen diesen Zustand. Er sei nicht ernst zu nehmen, unnütz, die Gerechtigkeit beleidigend, mit gefährlichen Folgen im Falle massenhaften Auftretens. Am Ende heißt es, wer mit dieser Auffassung an die glückliche Liebe herangehe, sterbe leichter – eine ironische Wendung, aber keine ins banale Gegenteil.

Und auch sonst: Ob nun ein Hund über seinen ehemaligen Herrn – wahrscheinlich einen politischen Führer – monologisiert oder eine fürs Lesen begabte Maschine ihre Gefühllosigkeit reflektiert, die meisten Texte werden von überaus banalen Einsichten eingeleitet. Erst allmählich und oft hinterrücks befällt den Leser eine Ahnung von ihrer philosophischen Spannweite.

In dem Zyklus "Es ist genug", an dem Wislawa Szymborska bis zu ihrem Tod arbeitete und den sie nicht mehr zum Abschluss brachte, verhält es sich genau so. Selbst dort, wo auf einmal Interesse am politischen Alltag aufscheint, geht es um die Betrachtung der grundlegender menschlicher Eigenschaften. "Jemand, den ich seit einiger Zeit beobachte", heißt ein Gedicht, in dem sich Szymborska mit den in Polen letzthin beliebten Massendemonstrationen des nationalkatholischen Lagers beschäftigt. Bierflaschen, Scherben, Rosenkränze, Trillerpfeifen und Präservative zählt sie auf. Der Text ist ein Protest gegen die Straßenumzüge, indes artikuliert von einem schweigsamen Müllmann, indem der die Überbleibsel des an Pathos reichen Aufmarsches kommentarlos einsammelt.

Wislawa Szymborskas Gedichte aus mehreren Jahrzehnten, kongenial übertragen von Karl Dedecius und Renate Schmidgall, verwandeln die Bilder des Alltags in Denkbewegungen, die uns meist staunend, manchmal auch ein wenig ratlos zurücklassen.

Besprochen von Martin Sander

Wislawa Szymborska: Glückliche Liebe und andere Gedichte
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall und Karl Dedecius
Mit einer Nachbemerkung von Adam Zagajewski
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
100 Seiten, 19,50 Euro
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