Das Schweigen des Imams
"Eine Gesellschaft ist dann liberal", schrieb der amerikanische Philosoph Richard Rorty, "wenn ihre Ideale durch Überzeugungen statt durch Gewalt, durch Reform statt durch Revolution, durch freie, offene Begegnungen gegenwärtiger sprachlicher und anderer Praktiken durchgesetzt werden. Das heißt aber, eine liberale Gesellschaft hat kein Ideal außer der Freiheit, kein Ziel außer der Bereitschaft, abzuwarten wie solche Begegnungen ausgehen, und sich dem Ergebnis zu fügen."
Es mindert die Gültigkeit dieser wunderbar durchlässig formulierten Apologie der westlichen Demokratie um keinen Deut, wenn hier und heute eingestanden werden muss, dass von diesem gänzlich undogmatischen Modell des Zusammenlebens auf dem langen Weg von den Höhen der Philosophie in die Niederungen der so genannten multikulturellen Praxis nur noch eines übrig zu bleiben droht: die fromme Lüge.
Lamboy ist ein kleiner Stadtteil des im Nordosten des Rhein-Main-Gebietes gelegenen Industriestandorts Hanau. Die Bewohner und ihre Vertreter haben sich vor circa zehn Jahren mit der Einberufung von Bürgerversammlungen und Runden Tischen öffentliche Foren geschaffen, in denen die Beteiligten bemüht sind, die Folgen der allgemeinen Strukturkrise zu mildern, die Ausbreitung sozialer Brennpunkte zu verhindern und den Prozess der lokalpolitischen Willensbildung durch basisdemokratische Impulse zu bereichern. Da der Ausländeranteil im letzten Jahrzehnt von 30 auf 40 Prozent gestiegen ist, zeigten sich die Teilnehmer der Stadtteilkonferenz erleichtert, als sich 2004 der deutschsprachige Imam des Islamischen Kulturvereins auf Bitten des evangelischen Gemeindepfarrers bereit erklärte, sich auf den Dialog einzulassen und die Anliegen der muslimischen Mitbürger zur Diskussion zu stellen. Vor der ersten Sitzung des Gremiums gab der Geistliche in einem Hintergrundgespräch jedoch zu erkennen, seine aktive Teilnahme davon abhängig zu machen, dass die Stadtteilkonferenz den Wunsch des Islamischen Kulturvereins unterstützt, in der Nähe der Moschee eine Koranschule mit angegliedertem Internatsbetrieb einzurichten - ein Ansinnen, das der Magistrat der Stadt ein halbes Jahr zuvor abschlägig beschieden hatte, weil die politisch Verantwortlichen auf der Frage nach dem Zweck der projektierten Einrichtung sitzen blieben: Handelt es sich um eine Stätte der grundgesetzlich geschützten Religionsausübung oder um eine Kaderschmiede zur ideologischen Aufrüstung gegen die Verfassung des Gastlandes?
Der Imam schwieg und schweigt zu dieser Frage wie zu all den Fragen, die den anderen Teilnehmern der Stadtteilkonferenz unter den Nägeln brennen: Warum werden die kleinen muslimischen Mädchen vom Turnunterricht abgemeldet? Wer ist für die soziale Ächtung trennungswilliger türkischer Ehefrauen verantwortlich? Warum bleiben die deutschen Schüler bei Klassenfahrten weitgehend unter sich? Warum wandern die offiziellen Einladungen zu Kirchen-, Vereins- und Schulfesten ungelesen in den Papierkorb? Warum stößt das reiche und vielgestaltige Leben der Gemeinde bei den islamischen Adressaten auf ein an Feindseligkeit grenzendes Desinteresse?
Nein, der Imam des Islamischen Kulturvereins ist gewiss kein geifernder Hassprediger, sondern ein diskret auftretender Herr im hellgrauen Flanell, der wie seine zweihundert bundesweit agierenden Mitstreiter auch, im Auftrag des in der Türkei beheimateten Süleymanci Ordens über den forcierten Bau von Schülerwohnheimen für die Verbreitung des Islam im öffentlichen Leben der Bundesrepublik zu sorgen hat. Wo dieses partikulare Interesse auf den politischen Widerstand der Mehrheitsgesellschaft stößt, wird von den islamischen Funktionären gern der Verdacht gestreut, bei jeder noch so fundiert begründeten Ablehnung könne es sich eigentlich nur um die neue Spielart einer alten deutschen Krankheit handeln: die Fremdenfeindlichkeit. Dass diesem viel bespielten Instrument der Einschüchterung nur ein einziger schriller Ton zu entlocken ist, sollte allmählich auch uns, den guten, anständigen und geschichtsversessenen Deutschen auffallen, die wir nicht müde werden, ständig unsere kollektive Rückfallgefährdung zu thematisieren und darüber aus den Augen verlieren, dass die Gefährdung unserer Demokratie nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der gegenwärtigen Praxis von Menschen erwächst, denen nichts ferner liegt als ihre Überzeugungen einer offenen Begegnung anzuvertrauen oder sich gar dem Ergebnis dieser Begegnung zu fügen.
Hanau, scheint mir, ist überall; und wenn der Imam lächelt und schweigt, wird ihm das niemand verdenken können, weil er auf lange Sicht neben der notorischen Konfliktscheu der Deutschen auf zwei nahezu unüberwindliche Bündnispartner rechnen kann: die Zeit und die demographische Entwicklung.
Günter Franzen, Jahrgang 1947, lebt als freier Schriftsteller und Gruppenanalytiker in Frankfurt/Main. Buchveröffentlichungen u. a.: "Der Mann, der auf Frauen flog", Hamburg 1988. "Komm zurück, Schimmi!", Hamburg 1992. "Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt", Frankfurt/Main 2000.
Lamboy ist ein kleiner Stadtteil des im Nordosten des Rhein-Main-Gebietes gelegenen Industriestandorts Hanau. Die Bewohner und ihre Vertreter haben sich vor circa zehn Jahren mit der Einberufung von Bürgerversammlungen und Runden Tischen öffentliche Foren geschaffen, in denen die Beteiligten bemüht sind, die Folgen der allgemeinen Strukturkrise zu mildern, die Ausbreitung sozialer Brennpunkte zu verhindern und den Prozess der lokalpolitischen Willensbildung durch basisdemokratische Impulse zu bereichern. Da der Ausländeranteil im letzten Jahrzehnt von 30 auf 40 Prozent gestiegen ist, zeigten sich die Teilnehmer der Stadtteilkonferenz erleichtert, als sich 2004 der deutschsprachige Imam des Islamischen Kulturvereins auf Bitten des evangelischen Gemeindepfarrers bereit erklärte, sich auf den Dialog einzulassen und die Anliegen der muslimischen Mitbürger zur Diskussion zu stellen. Vor der ersten Sitzung des Gremiums gab der Geistliche in einem Hintergrundgespräch jedoch zu erkennen, seine aktive Teilnahme davon abhängig zu machen, dass die Stadtteilkonferenz den Wunsch des Islamischen Kulturvereins unterstützt, in der Nähe der Moschee eine Koranschule mit angegliedertem Internatsbetrieb einzurichten - ein Ansinnen, das der Magistrat der Stadt ein halbes Jahr zuvor abschlägig beschieden hatte, weil die politisch Verantwortlichen auf der Frage nach dem Zweck der projektierten Einrichtung sitzen blieben: Handelt es sich um eine Stätte der grundgesetzlich geschützten Religionsausübung oder um eine Kaderschmiede zur ideologischen Aufrüstung gegen die Verfassung des Gastlandes?
Der Imam schwieg und schweigt zu dieser Frage wie zu all den Fragen, die den anderen Teilnehmern der Stadtteilkonferenz unter den Nägeln brennen: Warum werden die kleinen muslimischen Mädchen vom Turnunterricht abgemeldet? Wer ist für die soziale Ächtung trennungswilliger türkischer Ehefrauen verantwortlich? Warum bleiben die deutschen Schüler bei Klassenfahrten weitgehend unter sich? Warum wandern die offiziellen Einladungen zu Kirchen-, Vereins- und Schulfesten ungelesen in den Papierkorb? Warum stößt das reiche und vielgestaltige Leben der Gemeinde bei den islamischen Adressaten auf ein an Feindseligkeit grenzendes Desinteresse?
Nein, der Imam des Islamischen Kulturvereins ist gewiss kein geifernder Hassprediger, sondern ein diskret auftretender Herr im hellgrauen Flanell, der wie seine zweihundert bundesweit agierenden Mitstreiter auch, im Auftrag des in der Türkei beheimateten Süleymanci Ordens über den forcierten Bau von Schülerwohnheimen für die Verbreitung des Islam im öffentlichen Leben der Bundesrepublik zu sorgen hat. Wo dieses partikulare Interesse auf den politischen Widerstand der Mehrheitsgesellschaft stößt, wird von den islamischen Funktionären gern der Verdacht gestreut, bei jeder noch so fundiert begründeten Ablehnung könne es sich eigentlich nur um die neue Spielart einer alten deutschen Krankheit handeln: die Fremdenfeindlichkeit. Dass diesem viel bespielten Instrument der Einschüchterung nur ein einziger schriller Ton zu entlocken ist, sollte allmählich auch uns, den guten, anständigen und geschichtsversessenen Deutschen auffallen, die wir nicht müde werden, ständig unsere kollektive Rückfallgefährdung zu thematisieren und darüber aus den Augen verlieren, dass die Gefährdung unserer Demokratie nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der gegenwärtigen Praxis von Menschen erwächst, denen nichts ferner liegt als ihre Überzeugungen einer offenen Begegnung anzuvertrauen oder sich gar dem Ergebnis dieser Begegnung zu fügen.
Hanau, scheint mir, ist überall; und wenn der Imam lächelt und schweigt, wird ihm das niemand verdenken können, weil er auf lange Sicht neben der notorischen Konfliktscheu der Deutschen auf zwei nahezu unüberwindliche Bündnispartner rechnen kann: die Zeit und die demographische Entwicklung.
Günter Franzen, Jahrgang 1947, lebt als freier Schriftsteller und Gruppenanalytiker in Frankfurt/Main. Buchveröffentlichungen u. a.: "Der Mann, der auf Frauen flog", Hamburg 1988. "Komm zurück, Schimmi!", Hamburg 1992. "Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt", Frankfurt/Main 2000.