Das Schweigen brechen

Von Tobias Wenzel · 11.09.2011
Rund 180 Veranstaltungen für Kinder und Erwachsene mit etwa 140 Schriftstellern aus Ländern aller Kontinente, das Internationale Literaturfestival Berlin gilt immer noch als das größte in Europa - trotz der finanziellen Einschnitte der letzten Jahre. Nun ging die erste von zwei Wochen zu Ende. Der Asien-Pazifik-Raum ist diesmal Schwerpunkt. Und wohl noch nie war das Literaturfestival so politisch wie in diesem Jahr.
"The image of the Twin Towers collapsing shocked the American public to the core. The impact went deeper than grief."

Der US-amerikanische Schriftsteller Adam Haslett erinnerte sich gemeinsam mit elf Kollegen am Sonntagabend vor rund 150 Zuhörern auf der großen Bühne des Hauses der Berliner Festspiele an 9/11.

Genau 45 Minuten vor den Attentaten nahm das Leben von DBC Pierre eine überraschende Wende: Ein großer englischer Verlag kaufte vom stark verschuldeten Autor mit krimineller Vergangenheit die Rechte für dessen Debütroman "Vernon God Little". Einen Tag vor der Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals stand DBC Pierre vor dem Eingang des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof und aß genüsslich aus einem Pappschälchen:

"Das ist meine Currywurst, meine erste Currywurst, seit sie den Flughafen Tempelhof geschlossen haben."

Currywurst und Ex-Flughafen, beiden begegnet man in DBC Pierres neuem Roman "Das Buch Gabriel". Daraus las der Booker-Preisträger beim Berliner Festival zum ersten Mal in Deutschland.

Ein 25-jähriger drogenaffiner Antikapitalist will sich umbringen, aber zuvor noch einmal das Leben richtig genießen. Zuletzt landet er in Berlin und wird in den Katakomben des Flughafens Tempelhof Zeuge einer Gaumen- und Sexorgie. Auch Tahar Ben Jelloun, der am Mittwoch das Festival mit seinem politischen Vortrag zum arabischen Frühling eröffnet hatte, führte die Zuhörer nach unten - in die Hölle. In einem Witz:

"Die Diktatoren der Welt sind in der Hölle gelandet. Um sie zu bestrafen, lässt Gott sie durch das Blut waten, das sie vergossen haben. Dem ehemaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser geht das Blut bis zur Hüfte. Saddam Hussein ist gar nicht mehr zu sehen, weil ihm das Blut bis über den Kopf reicht. Dann kommt Hafiz al-Assad, der Vater von Baschar al-Assad, dran. Er läuft auf der Oberfläche des Blutes, als hätte er gar kein Blut vergossen. 'Wie kann das denn sein?', fragt Gott, 'Das ist doch einer der schlimmsten Diktatoren gewesen.' Da antwortet sein Sekretär: 'Der läuft halt auf dem Kopf von Saddam.'"

Blut - genauer: das unerklärliche Bluten eines für tot gehaltenen Menschen - spielt auch eine wichtige Rolle in "Bastard", dem 18. Band der Thriller-Reihe um die Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta. Daraus las Bestsellerautorin Patricia Cornwell am Freitagabend.

1990 veröffentlichte sie ihr erstes Scarpetta-Buch und damit viele Jahre, bevor Gerichtsmedizin-Serien wie "CSI" die beste Sendezeit im Fernsehen eroberten. Mittlerweile, erzählte Patricia Cornwell, beeinflussen diese Serien auch Mörder:

"Viele Kriminelle gehen viel penibler vor als früher. Vorbei sind die Tage, in denen Kriminelle nur darauf geachtet haben, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Sie achten nun auf alles Mögliche, was der Polizei die Arbeit sehr erschwert. Aber der Einfluss der Medien und Pathologen-Krimis auf die Bürger ist noch viel gravierender. Ich war schon an Tatorten, an denen die Opfer die Beweise für die Polizei sichern wollten und so den gesamten Tatort zerstört haben. Aber sie dachten: 'Wir sehen doch fern und wissen, wie man so etwas macht.'"

Erstaunlich wenige Besucher waren zur Lesung der US-amerikanischen Thriller-Meisterin gekommen: knapp einhundert. Genauso viele, und damit wohl mehr als erwartet, verfolgten am Samstagabend die Lesung eines australischen Autors vietnamesicher Herkunft. Einer von vielen Belegen dafür, dass die Festivalbesucher besonders an Veranstaltungen mit politischem Hintergrund interessiert sind. Nam Le las aus der Titelgeschichte seines Erzählbandes "Im Boot". Darin geht es um einen kleinen Jungen in einem Flüchtlingsboot aus Nordvietnam. Die Flüchtlingsproblematik und die Geschichte Vietnams - Nam Le zufolge ein Tabuthema in dem Land:

"Darüber wird zwischen den Generationen fast gar nicht gesprochen. Als die ersten Kritiken zu meinem Buch erschienen, hieß es: 'Ganz klar, hinter der Titelerzählung steckt seine persönliche Erfahrung.' Aber das ist Blödsinn. Meine Eltern haben überhaupt nicht mit mir über die Flucht im Boot geredet. Aber nach dem Erscheinen meines Buches sagten plötzlich die Vietnamesen, die vorher geschwiegen hatten: 'Hej, Du solltest mal meine Geschichte erzählen.' Und meine Mutter meinte: 'Dein Buch ist ganz okay. Aber ich erzähle dir irgendwann einmal meine Geschichten. Da kannst du deine Geschichten aber einpacken!'"

Das Schweigen in Asien - Madeleine Thien, kanadische Autorin chinesisch-malayischischer Abstammung, kennt es nur zu gut. Ihr neuer Roman thematisiert die Diktatur der Roten Khmer im Kambodscha der 70er-Jahre, die rund zwei Millionen Menschen hinrichten ließen. Noch immer ein Tabu in Kambodscha.

Der in China verbotene Schriftsteller Liao Yiwu wollte nicht mehr zum Schweigen verdammt sein und wanderte nach Berlin aus. Er berichtete am Freitag über Foltermethoden in China, wies aber auch darauf hin, dass einige von der Staatsmacht gepeinigte Chinesen nicht friedlich protestieren, sondern leider Rache üben:

""Die Menschen von unten haben eine solche Wut! Eine Wut, die ein unglaubliches Gewaltpotenzial birgt. Im Juni zum Beispiel haben einfache Leute mit Dynamit einen Anschlag auf ein chinesisches Polizeirevier ausgeübt. Vielleicht haben sie davon gehört, dass ein normaler Chinese das Kind eines Polizisten entführt und getötet hat. Diese Menschen meinen, Gewalt mit Gewalt begegnen zu dürfen. So etwas möchten westliche Politiker oder Geschäftsmänner doch lieber gar nicht wissen."

Link:
Internationales Literaturfestival Berlin
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