Das schleichende Vergessen

Zu Gast: Prof. Dr. Hans Gutzmann, ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Krankenhaus Hedwigshöhe, und Tilman Jens, Filmemacher und Autor · 22.08.2009
Sie leben, aber sie leben in ihrer eigenen, verschlossenen Welt. Ab und an haben sie lichte Momente, nur selten können andere in ihre Welt eindringen – Demenzpatienten.
Die häufigste und bekannteste Art der Demenz ist die Alzheimerkrankheit - Schätzungen zufolge leben in Deutschland ein bis 1,2 Millionen Alzheimer-Patienten. Jedes Jahr erkranken 200.000 Menschen, für das Jahr 2030 wird mit einer Erhöhung auf zwei Millionen Alzheimerpatienten gerechnet.

Einer der prominentesten Demenzpatienten ist Walter Jens. Der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller war einer der führenden Intellektuellen und Rhetoriker Deutschlands. Als seine Familie seine Erkrankung im vergangenen Jahr öffentlich machte, war das Erstaunen groß: "ausgerechnet Walter Jens!" Mancherorts wurde aber auch Kritik daran laut, das Leiden des Ehemannes und Vaters derart zur Schau zu stellen.

Der Sohn Tilman Jens, Filmemacher und Autor, tritt dieser Kritik selbstbewusst entgegen:

"Hätte ich warten sollen, bis mein Vater gestorben ist? Ich will ermutigen, dass darüber gesprochen wird, das ist mein Hauptmotiv. Ich merke es bei meinen Lesungen, die Leute wollen darüber reden. Und es ist erstaunlich, wie viele Menschen dieses Thema betrifft."

In seinem Buch "Demenz – Abschied von meinem Vater" beschreibt Tilman Jens die Folgen der Krankheit für die Familie, den geistigen Verfall des einst bewunderten Vaters - "er war das Hirnjogging par excellence" - die Entdeckung eines ganz anderen Menschen, die Nöte und Zweifel der Angehörigen.

"Er lebt - ich meine, das ist ein abgegriffener Topos - aber er lebt ein Stück in der anderen Welt, man hat immer so für Momente einen Zugriff, aber der Zugang zu dem alten Vater ist versperrt. Nur es gibt halt einen anderen Vater, der mit seiner Pflegerin - er hat Gott sei Dank die Möglichkeit, sehr gut versorgt zu sein durch eine alte Bäuerin, eine gestandene Schwäbin, die ihn dann mitnimmt auf ihren Bauernhof. Und da füttert er, der früher Tiere hasste, Karnickel - es ist erschreckend. Auf der anderen Seite möchte ich auch die Erfahrung, diesen kreatürlichen Vater erlebt zu haben, nicht missen. Also diese Krankheit ist furchtbar, durch nichts zu beschönigen."

Beschreibungen wie diese kennt Prof. Dr. Hans Gutzmann nur zu gut. Der ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Krankenhaus Hedwigshöhe in Berlin beschäftigt sich seit langem mit Demenzpatienten.

"Mein Nahziel ist, dass wir das in der Breite umsetzen, was wir umsetzen könnten, dass nicht nur 20 Prozent der Patienten eine angemessene Therapie erhalten, sondern 90 Prozent. Dann wäre auch das Sozialsystem entlastet, und auch für die Angehörigen wäre es eine bessere Situation."

Das Problem – so der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie - ist nach wie vor, dass es keine Möglichkeit der Frühtherapie gibt. Patienten kämen in den meisten Fällen erst, wenn die Symptome schon überhand nehmen. Dann seien die Schäden im Gehirn jedoch schon derart fortgeschritten, dass die Alzheimer-Demenz allenfalls noch hinausgezögert werden könne – mehr nicht.

"Was von den Nervenzellen weg ist, ist weg. Wir haben nur eine Idee zur Erkennung und was wir immer noch nicht haben, ist eine Frühtherapie. Wir haben nur eine Therapiemöglichkeit für die Phase, in der die Nervenzellen schon derart angegriffen sind, dass die Botenstoffe schon nicht mehr funktionieren. Auf absehbare Zeit werden wir mit den Problemen zu tun haben, die die Erkrankung mit sich bringt."

Nach wie vor ist Alzheimer nicht heilbar. Umso wichtiger sei es – so Prof. Gutzmann – schon bei den ersten Anzeichen einer Demenz einen Facharzt aufzusuchen.


"Das schleichende Vergessen - Demenzerkrankungen" - darüber diskutiert Dieter Kassel heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr gemeinsam mit Prof. Dr. Hans Gutzmann und Tilman Jens. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen und Fragen stellen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 / 2254 2254 oder per Email unter gespraech@dradio.de.

Informationen im Internet:
Über Prof. Dr. Hans Gutzmann

Über Tilman Jens

Zum Thema:
Kompetenznetz Demenzen

Deutsche Alzheimer Gesellschaft

Bundesweites Alzheimer-Telefon: 0180 / 317 10 17