Das Reflex-Problem

Von Heribert Seifert · 18.01.2008
Zu den unangenehmen Einlassungen im Streit über den richtigen Umgang mit einigen Gruppen gewalttätiger Ausländer gehört der Vorwurf des ehemaligen Bundeskanzlers Schröder, er habe von Roland Koch und Angela Merkel noch kein Wort zu aktueller rechtsradikaler Gewalt vernommen.
Unterstellt wird da, dass hinter der Empörung über eine bestimmte Form der Gefährdung öffentlicher Räume durch verwahrloste Einwanderer der Wille stehe, von der viel größeren Gefahr durch Rechtsextremisten abzulenken. Die Absicht dieses Manövers ist durchsichtig und verdient keine ernsthafte Beachtung.

Über die öffentlichen Reaktionen auf beide Gewaltformen nachzudenken, lohnt sich dagegen durchaus. Denn obwohl nach Ansicht des Kriminologen Christian Pfeiffer "die Türken-Machos und rechtsextreme deutsche Jugendliche Zwillinge im Geiste" sind, lösen ihre Aktivitäten in den Massenmedien ganz unterschiedliche Reflexe aus. Bereits die Bereitschaft zur Wahrnehmung des jeweiligen Problems ist unterschiedlich ausgeprägt. So gehört es seit den neunziger Jahren zum journalistischen Anstand, rechtsextremistischen Ungeist in all seinen Erscheinungsformen und auch in entlegenen Nischen der deutschen Provinz aufzuspüren. Einschlägige Gewalttaten sind in Texten und Bildern immer wieder präsent. Der Wille zu einer Aufklärung, die schon aus Solidarität mit den Opfern keine Rücksichten nimmt, beherrscht die Berichterstattung. Es gilt die Devise, lieber einmal zuviel oder zu schnell Alarm zu schlagen als eine Untat zu übersehen.

Jetzt, da nicht deutsche Skins und Neonazis unter Verdacht stehen, sondern türkisch- und arabischstämmige Jugendliche, tönt es anders. In einem Kulturmagazin des Fernsehens bekennt ein eingeladener Experte zur Begeisterung der Moderatorin, dass er die Bilder vom vorweihnachtlichen Überfall auf einen Münchner Rentner nicht mehr sehen könne. Die Kommentatorin einer bedeutenden Hauptstadtzeitung erklärt die wiederholt ausgestrahlte Videoaufzeichnung dieses Verbrechens gar zu einem Hindernis für das, was sie sich unter einer "differenzierten, sachlichen Debatte" vorstellt. Denn, so meint sie, diese Bilder emotionalisierten die Zuschauer zu sehr, so dass sie ihr Denkvermögen ausschalteten. Wir lernen: in dem einen Fall tut grenzenlose Aufklärung not, im anderen ist fürsorgliches Beschweigen angesagt, Wegsehen eine Tugend.

Unterschieden wird auch bei der Suche nach Erklärungsmustern und bei den Schuldzuweisungen. Vorurteils- und Extremismusforscher sind sich mit vielen Leitartiklern schon lange darin einig, dass Rechtsextremismus keine Sache marginalisierter Minderheiten sei. Er habe vielmehr bereits die "Mitte" der Gesellschaft infiziert. Deshalb müssen die verdächtigen Milieus und Mentalitäten immer wieder aufs Neue untersucht, muss die extremistisch kontaminierte Mehrheitsgesellschaft mit immer ausgefeilteren Fragebögen ausgeforscht werden. So kann man dann am Fieberthermometer einer sogenannten "gruppenbezogenen Menschenfeindlicheit" jedes Jahr neue Höchstwerte ablesen.

Im Gegensatz dazu herrscht bei der Suche nach Erklärungen in Einwanderergemeinschaften eher Zurückhaltung und Einfalt. Den Blick überhaupt auf ethnokulturelle Einflussfaktoren zu richten, gilt als anstößig und tendenziell rassistisch. Hier gibt es immer nur bedauerliche Einzelfälle. Das musste selbst die türkischstämmige Soziologin Necla Kelek erleben, als sie auf unerfreuliche Sozialisationspraktiken in bestimmten türkischen Milieus hinwies. Bereits die schlichte Beschreibung solcher ethnokultureller Eigenarten gilt als Rückfall in reaktionäres Denken. Erlaubt ist dagegen, als Erklärungsmuster die soziale "Unterprivilegierung" türkischer und arabischer Einwanderer ins Feld zu führen. Dieses Argument ermöglicht, im rhetorischen Sauseschritt die prügelnden Täter in Opfer deutscher Vernachlässigung zu verwandeln. An den kriminellen Karrieren dieser Täter unbeteiligt zu sein, das will sich deutscher Sündenstolz nicht nachsagen lassen.

Da fehlt nicht viel, den deutschen Opfern gleich direkt die Schuld für das zuzuweisen, was ihnen geschah. Der Feuilletonchef einer großen Wochenzeitung hat solcherart dem Münchner Rentner, den zwei ausländische Jugendliche krankenhausreif prügelten, zum Täter erklärt. Seine Aufforderung in der U-Bahn, das Rauchverbot zu beachten, gehöre zu jenen "Gängelungen, Ermahnungen und blöden Anquatschungen", mit denen er und seinesgleichen nach Ansicht dieses Kulturjournalisten den Ausländern "das Leben zur Hölle machen". Wer hätte da nicht Verständnis dafür, wenn die so Bedrängten mal ausrasten.

Wie es aussieht, wollen sich manche Bewohner deutscher Redaktionsstuben um keinen Preis ihre Lieblingsfeinde und Lieblingsopfer nehmen lassen.

Heribert Seifert, geboren 1948 in Dorsten/Westfalen, ist Lehrer und freier Publizist.