Das rechte Maß von Nähe und Distanz

Die israelische Journalistin und Autorin Avirama Golan beschreibt in ihrem Roman "Die Raben" zwei gegensätzliche Mutterfiguren: Auf der einen Seite steht Genia, eine typische jiddische Mamme, die mit ihrer Gluckenhaftigkeit alles zu erdrücken droht. Auf der anderen Seite Didi, die im Kibbuz groß wurde und eher zuwenig Nähe erfahren hat.
Na'ama ist zwölf Jahre alt und beobachtet gerne die Raben. Über dem Orangenhain, unweit ihres frisch renovierten Elternhauses, schwirren sie herum. Das Leben der Raben verläuft Jahr für Jahr nach festen Mustern. Na'amas Großvater, Biologielehrer und Ornithologe in einem Kibbuz, hat die Enkelin in das Verhalten dieser Vögel eingeweiht. Sie sind monogam und widmen sich hingebungsvoll ihrem Nachwuchs.

Beobachten darf man sie nur aus sicherer Entfernung. Denn wer sich einem Nest oder einem herausgefallenen Küken nähert, wird von den Raben angegriffen und verfolgt. Hingegen unternehmen sie nichts, wenn ein Kuckuck ihre Eier zerstört und seine eigenen ins Nest legt. Sie ziehen die Kuckucksjungen auf - die bald darauf mit ihren tatsächlichen Verwandten fortziehen.

Das schwierige Verhältnis von Eltern und Kindern, die Suche nach dem rechten Maß von Nähe und Distanz, das Erlebnis der Familie als unheilvolle Kraft verbindet die Figuren in Avirama Golans Roman "Die Raben". Sie leiden, häufig unbewusst, an Neurosen und emotionalen Defiziten, kommen sich vor wie Kuckuckskinder im Rabennest. Oder wie Rabenküken - ausgeliefert und ungeschützt.

Avirama Golan, 1950 geboren, Fernsehmoderatorin und Mitherausgeberin der Tageszeitung "Ha'aretz", hat mit ihrem Romandebüt in Israel für Furore gesorgt. "Die Raben" wurde ein Bestseller und von Amos Oz als "einer der besten israelischen Romane der letzten Jahre" gelobt.

In einer sehr knappen Sprache, oftmals nur mit Andeutungen arbeitend, stellt die Autorin mehrere Paare in unterschiedlichen Lebensphasen vor. Sie beginnt mit Genia, einer Achtzigjährigen, die zurückgezogen lebt, eine Putzneurose hat und - mittlerweile offensichtlich meschugge - darauf wartet, in einem Fernsehinterview die Welt über eine angebliche Verschwörung aufzuklären.

Genia, Tochter aus gutem Hause, stammt aus der Ukraine. Sie folgte ihrem Mann nach Palästina. Gerade noch rechtzeitig, um einem Pogrom der Ukrainer zu entgehen, dem ihre Eltern zum Opfer fielen. Doch zeitlebens sehnt sich Genia nach der alten Heimat. Sie ist unzufrieden mit den bescheidenen Verhältnissen, in denen sie lebt, entfremdet sich ihrem Mann und später den beiden Kindern Rami und Rivka.

Wehleidig und sentimental tyrannisiert Genia ihre Familie mit den überzogenen Ansprüchen einer "jiddischen Mamme". Nichts ist ihr gut genug, alles weiß sie besser. Ihr "Goldjunge" Rami sucht das Leben im Kollektiv und wird Offizier einer Eliteeinheit der Marine. Rivka, seine magersüchtige, jüngere Schwester, lebt sexuell äußerst permissiv und rebelliert auf diese Weise gegen den totalitären Herrschaftsanspruch ihrer Mutter.

Die zweite weibliche Hauptfigur in Golans Roman ist Didi, die in Tel Aviv für das Fernsehen arbeitet. Ihre und Genias Geschichte überschneiden sich für einen kurzen Moment, als Didi Ende der 90er Jahre für eine Dokumentarfilmserie über Mütter recherchiert, die ein Kind verloren haben und so an Genia gerät. Deren Sohn Rami kam unter ungeklärten Umständen bei einem Kommandounternehmen ums Leben. Bis heute sieht seine Mutter ihn als Opfer eines Komplotts der israelischen Regierung.

Didi, Mitte Vierzig, ist abgestoßen von Genia. Sie gehört einer jüngeren, im Land geborenen Generation an, hat einen völlig anderen kulturellen Hintergrund. Im Kibbuz aufgewachsen, war ihre Erziehung an der Ideologie der 50er Jahre ausgerichtet. Individualismus ist zu der Zeit in Israel verpönt, der Kollektivgedanke regiert. Kinder verbringen den Großteil ihres Tages und die Nächte gemeinsam im so genannten Kinderhaus. Der Kontakt mit den Eltern ist stark eingeschränkt. Es gibt keine Kosenamen, begrenzte Momente der Zärtlichkeit, kein Für-sich-Sein.

Während ihrer Recherche gerät Didi in eine Krise. Sie muss sich nun auch mit ihrer eigenen Geschichte und Herkunft konfrontieren. Avirama Golan schildert das als den Beginn einer Emanzipation von falschen Selbstbildern. Na'ama, Didis Tochter, ist durch die Beschäftigung mit den Raben vielleicht schon klüger als ihre Mutter. Sie verkörpert den kleinen Funken Hoffnung, dass nicht jede Generation gezwungen ist, ihr (Un)Glück entweder in Selbstaufgabe oder völliger Ablehnung der Eltern zu suchen.

Avirama Golan entwickelt den Roman nicht chronologisch. Die Lebenswege ihrer Figuren montiert sie als allwissende Erzählerin parallel. Sie überlappen sich oder werden retrospektiv erzählt, unterbrochen von kurzen inneren Monologen einiger Figuren. Doch bleiben sie stets nachvollziehbar. Und führen immer tiefer in fremde Leben, die der Leser nicht nur als Voyeur, sondern plötzlich als Beteiligter wahrnimmt.

Rezensiert von Carsten Hueck

Avirama Golan: "Die Raben"
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 2007
251 Seiten, 19,80 Euro