„Das Rätsel Depression“

Rezensiert von Katrin Jäger |
Rund fünf Millionen Menschen in Deutschland leiden in diesem Moment unter einer Depression. Jeder fünfte Betroffene so stark, dass die Selbsttötung als letzter Ausweg erscheint. Experten vergleichen die Depression in ihrer Häufigkeit mit den Volkskrankheiten Diabetes oder dem Krebs.
Trotzdem ist die „Vereisung der Seele“, wie Insider die Krankheit nennen, in der Öffentlichkeit viel weniger Thema als andere Volkskrankheiten. Der Depression haftet das Vorurteil der Selbstverschuldung an. Man solle sich zusammenreißen, sich weniger Stress machen, dann werde es schon gehen.

Mit solchen Stigmata und Vorurteilen wollen drei Experten jetzt aufräumen. Der Psychiater Ulrich Hegerl, der Psychologe David Althaus und der Autor Holger Reiners, der selbst Jahre lang an einer Depression litt. Mit ihrem Sachbuch „Das Rätsel Depression. Eine Krankheit wird entschlüsselt“ wollen die Drei informieren und aufklären.

Die Krankheit Depression kann jeden treffen, das Leiden ist schrecklich, die Heilungschancen aber trotzdem groß. So lauten die Kernaussagen des 272 Seiten dicken Buchs. Die dekliniert das Autorenteam in vier Kapiteln konsequent durch. Klar und für den Laien verständlich erklärt Ulrich Hegerl zunächst das Krankheitsbild. Der leitende Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie der Universität München beobachtet bei seinen Patienten vor allem eins:

Hegerl: „Die Unfähigkeit, überhaupt Gefühle zu empfinden. Da ist der Fachausdruck dann: Gefühl der Gefühllosigkeit. Hinzu kommt dann Schlafstörungen, grübelnd im Bett liegen in den Morgenstunden, Gewichtsverlust von mehreren Kilogramms. Immer Hoffnungslosigkeit. Es ist immer das Gefühl da, der schlimme Zustand geht nie wieder weg, und eine Reihe weiterer Krankheitszeichen. Und erst aus der Summe dieser ganzen Krankheitszeichen kann man dann ´ne Diagnose stellen.“

Professor Hegerl favorisiert bei der Behandlung die Kombination aus Psychotherapie und Medikamenten, den Antidepressiva. Anerkannte psychotherapeutische Verfahren wie zum Beispiel die kognitive Verhaltenstherapie stellen die Autoren in Grundzügen vor. Schaubilder machen deutlich, wie die unterschiedlichen Arzneien im Gehirn wirken.

Hegerl: „Da ist zum Beispiel sehr, sehr wichtig, dass die Betroffenen wissen, dass Antidepressiva nicht süchtig machen. Ein Problem ist, dass sie nicht gleich wirken. Ein anderes Problem ist, dass sie nicht bei jedem gleich wirken. Und es kann vorkommen, dass man einen erneuten Anlauf mit einem anderen Antidepressivum machen muss.“

Neben den Chancen erläutert die Abhandlung auch die Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten. Und gerade das macht das Buch sympathisch. Der Mitautor Holger Reiners litt Jahre lang selbst an der Krankheit. In einem eigenen Kapitel schildert er das Krankheitserleben aus der Innensicht – schlicht und eindringlich. Nicht nur an seiner Depression hat der inzwischen Geheilte gelitten, sondern auch an mangelnder Akzeptanz seiner Situation in seinem persönlichen Umfeld. Deshalb klärt er nun auf.

Reiners: „Wir müssen uns damit abfinden, dass mehrere Millionen Menschen allein in diesem Lande unter Depression leiden. Und wir tun immer noch so, als gäbe es diese Krankheit nicht. Wir haben sie stigmatisiert, wir wollen damit nichts zu tun haben. Und diese Phalanx des Unverständnisses aufzubrechen, ist mir ein ganz wichtiges Anliegen.“

Das gelingt Holger Reiners. Sein Ausflug in die Kulturgeschichte der Depression zeigt außerdem, dass es die Krankheit immer gab. Schon die Antike kannte diesen Gemütszustand, hat ihn jedoch als Melancholie bezeichnet und in positiver Deutung mit Genialität und geistigem Tiefgang in Verbindung gebracht. Diese Erkenntnis hilft dem heutzutage Erkrankten zwar nicht weiter, kann jedoch trösten.

Häufig fühlen Depressive sich als Versager. Der kulturhistorische Diskurs erläutert, wie eng dieses Gefühl mit der negativen Bewertung der Depression zusammenhängt. Anhand einiger Bildbeispiele veranschaulicht der Architekt Holger Reiners, wie Künstler über die Jahrhunderte hinweg der Vereisung der Seele Ausdruck verliehen haben.

Reiners: „Das, was man hier in dem Buch sieht, ist das, was der Patient normalerweise empfindet. Der aufgerissene Mund, der Schmerz, das Alleinsein, die Melancholie, aber auch in dem Bild von Schongauer, der heilige Antonius. Dieses quasi selber von Dämonen bedrängte Sein. Und jeder Depressive wird sich in diesen Bildern wiederfinden und sagen: ja, so habe ich ‚s auch erlebt.“

Die Abhandlung ist also mehr als ein medizinisches Sachbuch. Offen sprechen die Autoren über die Selbsttötung. Für viele Patienten ist der Suizid der letzte Ausweg aus der quälenden Gefühlsstarre, so Professor Hegerl.

Hegerl: „Das Leiden in der Depression ist oft viel massiver als bei allen anderen Erkrankungen. Deshalb ist die Gefährdung durch Suizide besonders hoch. Und die Mehrzahl der Suizide in Deutschland, das sind jedes Jahr über 11.000, passieren im Rahmen psychiatrischer Erkrankungen und am häufigsten im Rahmen von Depressionen.“

Fallbeispiele aus der Praxis zeigen die unterschiedlichsten Krankheitsverläufe. Die Autoren ermuntern die Betroffenen und deren Angehörigen, sich auf den therapeutischen Prozess einzulassen. Sie üben darüber hinaus Kritik an vielen Ärzten und Therapeuten. Holger Reiners:

Reiners: „Ich traue den Hausärzten einfach nicht zu, die Depression richtig zu erkennen und dann auch richtig zu behandeln und zum richtigen Zeitpunkt die Patienten dann auch zu überweisen zu einem Facharzt. Bei den Therapeuten ist mein Eindruck immer gewesen, dass sie am Anfang nicht wirklich die Nähe zum Patienten suchen. Sie neigen sehr stark zum Manipulieren des Patienten, und sie haben es ja in der Regel mit Patienten zu tun, bei Depressionen, die sich nicht wehren können.“

Die Autoren plädieren für ein kenntnisreiches Vertrauensverhältnis zwischen dem Patienten und dem Behandler. Das Buch gibt Patienten und Angehörigen genug Hintergrundwissen, um sich mündig mit einer vorgeschlagenen Therapieform auseinanderzusetzen. Hilfreich ist das Adressenverzeichnis am Ende des Textes. Dort sind bundesweit wichtige Anlaufstellen aufgelistet. Und wer es genau wissen will, kann in einem kurzen Selbsttest prüfen, ob er im Moment zur Depression neigt.


„Das Rätsel Depression. Eine Krankheit wird entschlüsselt“
Von Ulrich Hegerl, David Althaus und Holger Reiners
C.H.Beck