Das Publikum in den Rhythmus einbeziehen

Von Volkhard App |
Bei seiner Gründung 1985 war das Festival noch mit Lesungen und alternativem Schauspiel durchsetzt. Doch heute hat beim alljährlich stattfindenden "Tanztheater international" eindeutig der Tanz die Oberhand, für gut eine Woche wird Hannover zur Plattform für ungewöhnliche internationale Choreographen. Zwei Produktionen werden eigens für diese Stadt entwickelt, unter Mitwirkung von Bürgern.
Ein paar Augenblicke gibt es, da halten die Figuren auf der Bühne einander fest, setzen Zeichen der Menschlichkeit, geben sich vielleicht sogar einem Anflug von Liebe hin. Oder sie stehen in sich versunken da, wirken ruhig - es sind aber immer nur Momente, dann wieder werden die Bewegungen hektisch, die Körper zucken, sind verrenkt, jäh einbrechender Rhythmus treibt sie voran, erinnert an urbane Gesellschaft und an Maschinensaal, an den täglichen Zwang:

Wenn sich die 7 Tänzer in dem Stück "Uprising” zu einem gleichförmigen Ensemble fügen, entsteht das Bild einer erbarmungslosen Gesellschaft, in der alle funktionieren sollen.

Zuweilen rennen die Tänzer auch geduckt über die Bühne, wie Affen. So hat es Hofesh Shechter konzipiert, der 32-jährige israelische Choreograph, der seit 2002 in England arbeitet und dort Erfolge feiert:

"Ja, es geht um den Kampf der Menschen, um das Individuum, das sich gegen die Welt stellt. Man könnte es als politisches Thema begreifen, obwohl ich mich nicht für Politik interessiere. Aber die beiden Stücke, die ich mitgebracht habe, unterscheiden sich voneinander. In ‘Uprising' wenden sich die Personen gegen etwas Großes außerhalb, eine Macht, die sie nicht kennen. Es entsteht ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. In dem zweiten Stück stehen mehr Leute auf der Bühne - wie in einer großen Stadt -, und doch ist die Einsamkeit bei diesen Individuen größer, man lebt isoliert.”"

Auch dieses zweite, auf der "Insel” bereits umjubelte, bei uns erstmals gezeigte Stück "In Your Rooms” kennt neben einigen sekundenkurzen Momentaufnahmen diese atemberaubenden längeren Ensembleszenen, hier sogar mit neun Akteuren.

In diesen Passagen mit heftiger physischer Präsenz wird deutlich, von wem sich der Choreograph absetzen möchte: von den spröden, selbstverliebten "Schritteverwaltern" seiner Zunft. Hofesh Shechter, der die von ihm benötigte Musik selber komponiert, will das Publikum direkt erreichen, in den Rhythmus einbeziehen, will es aufrütteln:

""Ich möchte beim Betrachter Gefühle auslösen, das ist ein Hauptanliegen. Ein Gefühl von Brüderlichkeit, von Einfachheit - eingebettet in eine erzählerische, zeitlos wirkende Handlung. Ich möchte, dass da eine Art Mitgefühl entsteht bei denen, die meinen Stücken zuschauen, zugunsten der Humanität. Und das ist ja so im Theater, dass wir - anders als im rauen Alltag - alles von oben betrachten können, einen Überblick über das Leben gewinnen und sich so unsere Einstellung ändert.”"

Gibt es Auswege aus dem täglichen Kampf? Am Ende des neuen Stücks "In Your Rooms” umarmt sich ein Pärchen, während die anderen Akteure voneinander getrennt bleiben. Das Stück "Uprising” hingegen endet mit einem Gruppenbild, wobei aus dem Sockel der Akteure einer denkmalsgleich emporragt und ein rotes Fähnchen schwingt. Woran erinnert diese Gruppierung? An das Gemälde "Die Freiheit auf den Barrikaden”? Ein Zitat sei nicht beabsichtigt, so die Managerin kategorisch zu meiner Nachfrage.

In Erinnerung bleiben die Schlussbilder auf jeden Fall - und eine Szene zwischendurch: ein Tänzer tritt nach vorn und zeigt das Schild: ”Folgt keinem Führer!” Dann dreht er es um, dort steht: "Folgt mir!”.

Lacher im Publikum, das gleich zum Auftakt dieses hannoversche Festival von seiner besten Seite kennengelernt hat: als Plattform für ungewöhnliche internationale Choreographen. Leiterin Christiane Winter:

""Ich möchte mit dem Festival immer wieder neue Tendenzen aufgreifen und neue Gruppen vorstellen und dabei alle Facetten aufzeigen: von der Performance bis zum Tanztheater. Das ist meine Aufgabe, und die versuche ich in jedem Jahr, angereichert mit eigenen thematischen Akzenten, zu erfüllen."

Begonnen hatte dieses Festival 1985 als eine Art Gemischtwarenladen - durchsetzt noch mit Lesungen und alternativem Schauspiel. Dann gewann der Tanz die Oberhand: ehrgeizig zeigte man sich, wollte die künstlerische Topographie ganzer Länder und Kontinente in Hannover abbilden.

Internationale Gruppen wie "Lalala Human Steps” hatten hier ihre ersten deutschen Auftritte. Und es fehlte nicht an bekannten Namen: von Pina Bausch bis zu Anne Teresa de Keersmaker, von Sasha Waltz bis zu Jo Fabian.

In diesem Jahr darf sich das meist recht junge Publikum noch auf Jan Lauwers und die "Needcompany" freuen mit einer fiktiven Lebensgeschichte, die das 20. Jahrhundert umfaßt; und auf die ebenfalls aus Belgien anreisende Compagnie "Peeping Tom” mit dem in Deutschland erstmals gezeigten Werk "Le Sous Sol”, einem Familientreffen im Totenreich. Zwei Produktionen werden übrigens auch eigens in Hannover und für diese Stadt entwickelt, unter Mitwirkung von Bürgern.

Unterdessen hat sich die finanzielle Situation des Festivals zugespitzt: Im Jahr 2000 war es Teil des offiziellen EXPO-Kulturprogramms, und repräsentativ kam es auch vier Jahre später, bei der Jubiläumsausgabe, noch daher. Dann ging es materiell bergab, denn das Land Niedersachsen stieg aus der Förderung aus. Man ist auf die privaten Dauer-Sponsoren angewiesen - und die Stadt hat ihr Engagement verstärkt, das Programm wurde zudem ein wenig abgespeckt. Wie ist es um das bundesweite Ansehen dieses Festivals eigentlich bestellt, ist man wegen der Krisen an den Rand gerückt? Winter:

"Das Festival hat einen guten Namen, ich bin im Kollegenkreis fest verankert, für die Kollegen ist es wichtig, dass ich dabei bin. Deshalb brauche ich mir keine Gedanken darüber zu machen, wo das Festival denn nun steht. Es ist eher die Frage seines Überlebens, die immer wieder an den Nerven zehrt und uns etwas an den Rand drückt."

Im nächsten Jahr immerhin dürfen die Veranstalter ein Ereignis besonderer Güte ausrichten: die alle zwei Jahre stattfindende "Tanzplattform” - die Leistungsschau der in Deutschland arbeitenden Tänzer und Ensembles, die gerade auch das Fachpublikum nach Hannover locken wird.


Service:
Das Tanztheater international 2007 in Hannover dauert bis zum 8. September 2007.