"Das Projekt ist noch lange nicht gesichert"

Peter Conradi im Gespräch mit Dieter Kassel |
Trotz der Zustimmung beim Volksentscheid ist für den Architekten Peter Conradi das letzte Wort über die Realisierung des Bahnhofsprojekts "Stuttgart 21" noch nicht gesprochen. Die Kostenfrage sei völlig offen, da die Bahn sich weigere, verlässliche Kostenangaben zu machen.
Dieter Kassel: Als die Polizei heute Morgen gegen drei Uhr die Protestanten im Stuttgarter Schlosspark dazu aufrief, das Gelände zu verlassen, da ging ein erstaunlich großer Teil von ihnen freiwillig. Das ist vor allem deshalb erstaunlich, weil gerade die Parkschützer eigentlich als die stursten Gegner des Projektes "Stuttgart 21" gelten. Aber man hat es gemerkt heute, selbst bei den größten Gegnern ist eine gewisse Mutlosigkeit festzustellen, sieht es doch längst so aus, als sei das Projekt auf gar keinen Fall mehr zu verhindern.

Peter Conradi lebt seit ungefähr 60 Jahren in Stuttgart – ich sage das dazu, weil richtiger Stuttgarter, na ja, geboren ist er in Nordrhein-Westfalen. Da lacht er schon im Hintergrund. Er war Vieles: Präsident der Bundesarchitektenkammer, hat für die SPD im Bundestag gesessen, hatte aber auch in Stuttgart öffentliche Ämter und hat schon Mitte der 90er-Jahre begonnen, sich öffentlich gegen "Stuttgart 21" auszusprechen. Schönen guten Tag, Herr Conradi!

Peter Conradi: Hallo, guten Tag!

Kassel: Würden Sie das Projekt im Moment, wenn Sie könnten, immer noch verhindern?

Conradi: Das Projekt ist noch lange nicht gesichert. Einmal ist die Kostenfrage ja völlig offen – die Bahn weigert sich, verlässliche Kostenangaben zu machen. Und die Landesregierung hat ja beschlossen, übrigens mit der Stadt Stuttgart und mit dem Bund: Wenn die Kostengrenze von viereinhalb Milliarden überschritten wird, werden sie nicht mehr zahlen. Das ist der eine Punkt, das andere ist, es gibt erhebliche rechtliche Einwendungen, planungsrechtliche, sicherheitsrechtliche Einwendungen, und ich sehe die Bahn da noch nicht auf der Zielgeraden, zumal wichtige Abschnitte, also Planabschnitte, noch gar nicht genehmigt sind vom Eisenbahn-Bundesamt. Es kann also keine Rede sein davon, dass das Projekt durch ist.

Kassel: Durch ist es nicht, aber ein entscheidendes Datum, Herr Conradi, das war doch im vergangenen Jahr Ende November, als es den Volksentscheid gab und als immerhin 58,9 Prozent der Baden-Württemberger sich dafür – also man muss exakt sein – sich dafür ausgesprochen haben, dass sich das Land Baden-Württemberg auch weiterhin an der Finanzierung beteiligt. Aber da kann man doch sagen, de facto haben damals die große Mehrheit der Baden-Württemberger gesagt, wir wollen diesen unterirdischen Bahnhof.

Conradi: Das ist völlig richtig, das sehe ich auch so, das ist die politische Entscheidung, an die wird sich auch die Landesregierung halten. Die setzt allerdings nicht Recht und Gesetz außer Kraft, das heißt also, die Bahn muss dann schon bei ihren Planungen, bei dem, was sie baut, sich an Vorschriften halten, und es setzt nicht außer Kraft den Kostendeckel, den die Landesregierung beschlossen hat.

Kassel: Aber können Sie verstehen, dass manch einer, der vielleicht auch von außen auf Stuttgart schaut, wenn er genau das hört – einerseits knapp 60 Prozent in Baden-Württemberg waren für dieses Projekt, aber die Gegner sagen immer noch: Na, na, na, für uns ist diese Suppe noch nicht ausgelöffelt –, dass manch einer den Eindruck bekommt, diese Gegner sind einfach nur schlechte Verlierer?

Conradi: Nein, ums Gewinnen oder Verlieren geht es da nicht. Verlieren werden wir auf jeden Fall, wenn das gebaut wird, was die Bahn jetzt versucht, durchzudrücken, denn es wird ein Bahnknoten mit geringerer Leistungsfähigkeit als der bisherige Hauptbahnhof, das heißt also, ein Projekt, was eher einen Rückbau von Bahn und nicht eine Verbesserung des Bahnverkehrs bewirkt. Das ist der eine Punkt, das heißt, verlieren würden wir da, die Stuttgarter – die Bahnkunden sowieso. Aber ich bin noch gar nicht sicher, dass das frei zustande kommt. Die Bahn hatte ja einmal beschlossen, ihr Vorstand hatte beschlossen, solche Projekte nur zu beginnen, wenn sie plan festgestellt, das heißt genehmigt, sind. Das hatte die Bahn auch 2005 versprochen.

In der Zwischenzeit versucht die Bahn, das Projekt jetzt mit aller Macht in Gang zu bringen, sozusagen Fakten zu schaffen, damit es unumkehrbar wird. Das macht viele misstrauisch, die da fragen, warum wartet die Bahn nicht, bis sie alle Genehmigungen beisammen hat, warum wird jetzt hier mit Gewalt ein Bauabschnitt vorangetrieben, der noch gar nicht voll genehmigt ist. Das sieht so aus, als habe die Bahn selber etwas Angst.

Und wenn ich mir ihre bisherigen Planungen anschaue über die Jahre hinweg, dann war sie nicht sehr gut in der Sache: technisch nicht sehr gut, ingenieurtechnisch nicht sehr gut – es war zum Teil geradezu beschämend, was bei der Vermittlerrunde unter Heiner Geißler rauskam. Die Bahn konnte nach 15 Jahren noch nicht mal einen Fahrplan vorlegen. Also es gibt auch gute Hoffnungen, dass die Bahn selber mit ihrem Projekt scheitert.

Kassel: Aber, Herr Conradi, die Argumente, die Sie gerade noch mal gebracht haben – ein unterirdischer Bahnhof wäre nicht leistungsfähiger als der alte Kopfbahnhof, die Strecke nach Ulm wird nicht schneller, die Flughafenanbindung ist nicht durchdacht und, und, und – all diese Argumente lagen ja vor dem Volksentscheid schon auf dem Tisch. Warum haben diese und viele andere bekannte Argumente, die auch öffentlich diskutiert wurden, offenbar doch eine Mehrheit der Baden-Württemberger nicht überzeugt?

Conradi: Einmal hatten viele Leute es einfach leid, das Projekt. Das gilt nicht nur für Baden-Württemberg, auch in Berlin gibt es Leute, die sagen: Hört endlich auf, das Ding muss jetzt gebaut werden. Das andere war, viele hier der Abstimmenden waren erschreckt über die Drohung, die Bahn würde 1,5 Milliarden Schadenersatz verlangen, eine völlig aus der Luft gegriffene Zahl, und insofern waren sie auch nicht vernünftig informiert.

Gut, ich streite nicht über die Volksabstimmung, ich frage mich allerdings nach dem Vertrauensverlust, der entstanden ist – immerhin hat damals auf Betreiben der Landesregierung, also der CDU/FDP-Landesregierung, ein Vermittlungsverfahren unter Heiner Geißler stattgefunden, da war ich selbst dabei. Wir haben 80 Stunden lang von Phoenix begleitet verhandelt, und am Schluss kamen Vorschläge von Heiner Geißler, dem haben beide Seiten zugestimmt. Nicht nur, was die Bäume anbetraf, sondern auch, was die zukünftige Streckenführung, was die Sicherheit, ein neuntes und zehntes Gleis, also die Kapazität, anbetraf.

Und damals hat die Landesregierung zugestimmt, die Bahn hat zugestimmt, die Stadt hat zugestimmt, und jetzt wird etwas in Gang kommen, was mit dem Vorschlag von Heiner Geißler, der hieß Stuttgart 21 Plus, nichts mehr zu tun hat. Ich frage mich, wo Heiner Geißler eigentlich geblieben ist, er war ja damals auf jeder Talkshow. Aber er müsste doch jetzt sagen: Den Vorschlag, dem damals alle zugestimmt haben, der ist unterm Tisch, es wird jetzt Stuttgart 21 Minus gebaut. Das wird Vertrauensverluste bewirken, auch für die grün-rote Landesregierung, die lange wirken.

Kassel: Fühlen Sie sich denn als jemand, der persönlich an diesen Schlichtungsverhandlungen ja teilgenommen hat auf der Seite der Gegner, und der ja da auch Zeit investiert hat, wie viele andere, fühlen Sie sich da quasi verschaukelt?

Conradi: Ja, schon, denn die Bahn hat damals nicht widersprochen, als Geißler vorgetragen hat. Ich hatte große Zweifel, ob wir dem zustimmen sollten. Wir haben drüber diskutiert unter uns und haben dann gesagt, ja, wir stimmen da zu, denn wenn sie das machen, sind das die Mindestforderungen, damit das Ding überhaupt zugange kommt.

Ich war eigentlich immer noch, bin heute noch für die Kopfbahnhoflösung, den Kopfbahnhof zu sanieren. Aber so möchte ich eigentlich nicht angeschmiert werden, dass hier die beteiligten Partner sagen, ja, wir halten uns an die Schlichtung von Heiner Geißler, und jetzt – anderthalb Jahre später – ist nichts mehr davon da.

Kassel: Wir reden heute Nachmittag im Deutschlandradio Kultur mit Peter Conradi, Architekt, SPD-Mitglied und seit vielen, vielen Jahren Gegner des Projekts Stuttgart 21. Er selber lebt in Stuttgart. Herr Conradi, nun muss man aber schon beobachten, auch wenn jeder Bauabschnitt, der jetzt stattfindet, immer von der Polizei geschützt werden muss, weil es Demonstrationen gibt, nun muss man aber schon beobachten, oder widersprechen Sie mir da, dass eine gewisse Müdigkeit da ist bei den Gegnern.

Conradi: Ja, viele Gegner glauben nicht mehr daran, dass das Projekt durch Demonstrationen aufgehalten wird, ich selbst habe da auch meine Zweifel. Die Zeit, seit Wyhl – also in Wyhl wurde damals das Atomkraftwerk verhindert unter Filbinger und Späth – durch Demonstrationen, die ist vorbei. Ich glaube an den Rechtsstaat, ich glaube, dass wir einen Rechtsstaat haben, bei allen Mängeln, die es gibt, und bin sicher, da werden noch, bis das gebaut wird, wird noch einiges durch die Gerichte gehen. Und die Bahn selber muss endlich mal zeigen, dass sie es kann, also dass sie es ingenieurmäßig kann.

Kassel: Wie groß ist denn in Ihren Augen das Problem, dass die Gegner von Stuttgart 21 – wenn wir auf den Volksentscheid zurückkommen, dann sind es ja immerhin 41,1 Prozent landesweit, in Stuttgart um die 48 Prozent, da gab es eine knappe Mehrheit –, dass die ja eigentlich keine richtige politische Vertretung mehr haben? Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg hat gerade gestern gesagt, Winfried Kretschmann, er wird das Projekt nicht stoppen, die SPD will es sowieso nicht stoppen, über CDU und FDP müssen wir nicht reden.

Conradi: Ich erwarte nicht von ihm, dass er das stoppt, aber der Ministerpräsident hat versprochen, das Wohl des Volkes zu mehren, Schaden abzuwenden, und er hat eine kritische Begleitung, kritisch-konstruktive Begleitung zugesagt, und das hieße zum Beispiel, dass er darauf besteht, dass das, was damals unter Geißler vorgeschlagen wurde an Sicherheitsmaßnahmen am neunten und zehnten Gleis, dass das jetzt auch gemacht wird, dass er sich nicht so zum Bahnvertreter macht, wie sich die SPD-Abgeordneten zu Bahnvertretern gemacht haben.

Und ich fürchte, da wird er und seine Partei – also die SPD ist ja sowieso auf dem Tiefstand hier, sie hat das schlechteste Wahlergebnis seit 60 Jahren, und in Stuttgart unter 20 Prozent –, aber ich fürchte, dass auch die Grünen Wähler verlieren, weil da ist Vertrauen weg, und wie Sie richtig sagen, wen sollen eigentlich die kritischen Bahnhofsgegner wählen in der nächsten Wahl, wir haben ja im Herbst eine Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart.

Kassel: Ich bin gelegentlich in Stuttgart, sie leben da, Herr Conradi. Und ich war in diesem Jahr noch nicht da, aber davor immer so das Gefühl gehabt, ein bisschen ist da auch der Kalte Krieg ausgebrochen, weil sich in der Stadt die Gegner und die Befürworter des Projektes ziemlich unversöhnlich gegenüberstehen, das geht ja teilweise durch ganze Hausgemeinschaften, durch Familien. Wird das anhalten?

Conradi: Das hat sich sehr emotionalisiert, das ist richtig und ist von beiden Seiten auch zum Teil mit unguten Vorwürfen und Argumenten verschärft worden. Ich habe Heiner Geißler damals zugestimmt, dass er versucht hat, zu vermitteln. Er hat dann noch mal ein bisschen pathetisch ein Friedensangebot gemacht, einen Kompromissvorschlag, den Kombibahnhof.

Das hat die Bahn sofort abgelehnt, die Stadt auch. Die Landesregierung war eher dafür – ich glaube, bei solchen Streitfällen muss man auch nach Kompromissen suchen, das habe ich jedenfalls in der Politik gelernt. Man kann nicht mit dem Kopf immer durch die Wand. Und das ist hier versäumt worden, und das führt dann auch zu einem Vertrauensverlust für die parlamentarische Demokratie, für die Parteien, das bedrückt mich.

Kassel: Sagt Peter Conradi, SPD-Politiker, Architekt, Stuttgarter und langjähriger Gegner des Projekts Stuttgart 21. Herr Conradi, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Conradi: Herr Kassel, vielen Dank, Adieu!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Conradi
Peter Conradi kritisiert auch die Bahn.© dpa / picture alliance / Uwe Anspach
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