Das polnische Kino

"Alle Filme wirken wider das Vergessen"

Die polnische Filmemacherin Agnieszka Holland zu Gast bei Deutschlandradio Kultur
Die polnische Filmemacherin Agnieszka Holland zu Gast bei Deutschlandradio Kultur © Sven Crefeld / Deutschlandradio Kultur
Agnieszka Holland im Gespräch mit Patrick Wellinski · 25.04.2015
Vor zehn Jahren wurde das polnische Kino neu geboren, meint die Regisseurin Agnieszka Holland - heute werden jährlich 50 Filme in Polen produziert. Holland erinnert sich an die Historie des polnischen Kinos, beleuchtet ihre Rolle als Frau im Filmgeschäft und spricht über die Produktion von Serien.
Patrick Wellinski: Frau Holland, das polnische Kino gilt als aufregendstes in Europa zur Zeit. Und den ultimativen Triumph feierte es in der Nacht vom 22. zum 23. Februar dieses Jahres, als Pawel Pawlikowski für seinen Film Ida den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielt. Wie haben Sie die Nacht und den Sieg erlebt?
Agnieszka Holland: Pawel ist schon lange mein Freund. Außerdem bin ich als Patriotin des polnischen Kinos immer auf der Seite unserer Filmemacher. Und natürlich habe ich mich sehr über den Oscar gefreut. Aber es war nicht die größte Überraschung für mich. Für mich und für Pawel gab es den wahren Triumph ein paar Wochen zuvor, als Ida gleich fünf europäische Filmpreise gewann. Das war eine glorreiche Nacht für einen Film, der seine Karriere fast schon schüchtern begonnen hatte. Jedes große Festival hat ihn abgelehnt! Und dann hat der Film doch seinen Weg gemacht, weil er offenbar einen Nerv getroffen hat. Es gibt nämlich weltweit ein Kinopublikum, das eine innere Sehnsucht nach solch einem Kunstfilm hat. Eine Vision in Bilder gebannt. Er ist kommunikativ, persönlich, originell und ehrlich - und das obwohl Ida ja auf den ersten Blick kein "leichter" Film ist. Es gibt also diese universelle Sehnsucht und daß Pawel, der ja schon viele tolle Filme – auch in England – gemacht hat, diese Sehnsucht befriedigen konnte, gefällt mir sehr.
Wellinski: Was ist denn so polnisch an "Ida"?
Holland: Ida ist natürlich unter allen Gesichtspunkten ein "polnischer Film", ein Pole hat ihn gedreht, mit einer polnischen Crew und polnischem Geld in Polen und dazu noch über ein Thema der polnischen Identität. Aber so etwas wie das polnische Kino kann es gar nicht geben. Wissen Sie, ich würde das auch gar nicht wollen. Dann müsste es eine Art Schablone geben, in die man alle Filme pressen müsste. Eine furchtbare Vorstellung! Die Kraft des polnischen Kinos muss zukünftig daran gemessen werden, ob es persönlich, originell und mutig ist. Und nicht daran, dass man es möglichst leicht an etwas erkennen kann.
Wellinski: Und wie erklären Sie sich den derzeitigen Erfolg des polnischen Kinos? Oder anders gefragt: Was ist so neu am "neuen polnischen Film"?
"Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es ja mehrere Hochphasen"
Holland: Das liegt an der Infrastruktur, die ein anderes Kino ermöglicht. Und das ist in Polen vor genau zehn Jahren geschehen. Damals entstand ein Umfeld , das quasi eine Neugeburt des polnischen Kinos möglich machte. Das gilt übrigens für jegliche Kinematographie. Kino braucht Geld, eine professionelles Umfeld aber auch ein Publikum. Und die Geschichte des polnischen Kinos lässt sich auch anhand dieser Umstände erzählen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es ja mehrere Hochphasen. Denken Sie an die erste Ende der 50er-, 60er-Jahre, denken Sie an die "polnische Schule" mit den Filmen von Andrzej Wajda, Andrzej Munk, Jerzy Kawalerowicz.
Dann die 70er-Jahre, die Filme von Zanussi und von ein paar jungen Regisseuren, wie mir, Kieslowski oder Falk. Das nannte man damals übrigens das "Kino der moralischen Ungeduld", was auch immer das heißt, wir haben einfach über wichtige Dinge aus dem Polnischen Leben erzählen wollen. Und siehe da: im Ausland fand das großen Anklang.
Doch dann kamen die 80er-Jahre, der Kriegszustand. Und mit der Wende 1990 ging dann alles in die Brüche. Die Zeit der Transformation war eine Trauerzeit für Filmemacher. Schlimmer noch: die einsetzende Kommerzialisierung der Kultur führte dazu, dass sich meine Kollegen völlig verloren fühlten. Sie fragten sich: Was soll ich erzählen? Wer ist dieses neue Publikum? Auf den Leinwänden war nur noch amerikanisches Kino zu sehen – und das ist ja auch nicht immer gut.Naja und dann war das Geld weg.
Und erst ab 2005 gab es einen Gesetzesentwurf, der endlich klar dazu Stellung bezog, wie das polnische Kino zu finanzieren sei. Das war revolutionär. Und es entstand das polnische Filminstitut. Das ist jetzt zehn Jahre her und wenn Sie so wollen ist das eine reine Erfolgsgeschichte. Vor 2005 wurden fünf polnische Filme jährlich produziert, heute sind es 50. Und das Publikum will das auch sehen, weil das polnische Kino eben nicht mehr nur Schullektüre verfilmt oder romantische Komödien. Diese neuen Filme erzählen von sehr schwierigen Dingen, von Krisen der Gegenwart aber auch der Vergangenheit. Das eint dieses "neue" polnische Kino.
Wellinski: Ich habe Ihnen ein Foto mitgebracht ...
Holland: Ja! Ich kenne dieses Foto. Es hängt über meinem Schreibtisch. Sie haben recht, es ist während der Filmfestspiele in Cannes entstanden. Da bin ich. Die kleinste, aber nur Körperlich natürlich, ich stehe zwischen Andrzej Wajda und Roman Polanski, den ja wirklich jeder kennt, und da ist auch Krzystof Kieslowski und Ryszard Bugalski, der im Wettbewerb vertreten war. Ein tolles Bild. Lustig wie ich neben meinem Mentor Wajda stehe. War mir so noch nicht aufgefallen.
Wellinski: Sie haben Ihren Mentoren schon erwähnt. Wie ist das eigentlich heute? Suchen junge Regisseure die älteren auf und fragen nach Rat? Fungieren Sie als eine Art Mentor?
Holland: Das war viel stärker zwischen meiner Generation und der von Andrzej Wajda. Dann ist etwas geschehen, das diese Verbindungen kaputtgegangen gegangen sind. Und ja, das liegt auch am Geld. Ich habe ja gesagt, dass in den 90er Jahren keine Filme finanziert wurden. Und die jungen Filmemacher waren wütend, weil sie dachten: Die alten sitzen da oben und nehmen unser Geld weg, deshalb gibt es keinen Platz für uns.
Als sich später herausgestellt hat, dass genügend Geld und Platz für alle da ist, hat sich das geändert. Zögerlich erst. Doch die Zeiten, in denen man sehr geheimnisvoll auf dem Dachboden saß und in aller Stille sein Drehbuch verfasst hat, damit ja kein andere die Idee klauen könnte – sind gottseidank vorbei. Und – was mir wichtig ist- die jungen Regisseure reden auch wieder untereinander. Aber es stimmt auch, dass sehr viele Filmemacher zu mir kommen und mich um Hilfe bitten. Wo ich helfen kann, da helfe ich, die Zeit erlaubt es mir natürlich nicht immer. Aber dieser Dialog ist wichtig, ohne die Solidarität unter den Filmemachern gibt es kein gutes Kino.
Wellinski: Erinnern Sie sich eigentlich an den Moment an dem Sie beschlossen haben: Ich werde Regisseurin?
"Ich war 15 und wollte Malerin werden"
Holland: Ja ich erinnere mich sehr gut an diesen Moment. Wobei ... ich habe mittlerweile schon so häufig davon erzählt, dass ich nicht mehr weiß, ob ich mich an diesen Moment erinnere oder an meine Erzählung über diesen Moment. Sie wissen wie das ist, wenn man etwas oft genug erzählt, wird diese Narration gerne für die Wahrheit gezahlt.
Aber ich denke, ich erinnere mich gut daran und das war schon sehr früh. Ich war 15 und wollte Malerin werden. Ich wollte an die Kunsthochschule. Und da kam so ein junger Mann. Der Sohn eines Malers, der selber malte. Er hat sogar die Schule geschmissen und schon Kunst gemacht. Und ich war in ihn verliebt. Irgendwann habe ich mich schließlich getraut, ihm meine Bilder zu zeigen. Er hat sie sich angesehen. Sehr lange. Ich glaube mindestens zwei Stunden lang hat er sich meine Bilder angesehen. Und dann hat er gesagt: Nicht schlecht – für eine Frau. Ich war fassungslos! Meine feministische Seele rebellierte. Und dann habe ich nachgedacht und ich wusste, in gewisser Weise hat er Recht, weil mir was fehlte. Ich stehe nicht leidenschaftlich genug für die Malerei. Ich habe begriffen, dass man von einem inneren Imperativ angetrieben werden muss. Man muss "müssen müssen". Verstehen Sie. Und das war bei mir nicht so. Aber ich wollte schöpferisch tätig sein. Ich wollte Geschichten erzählen, weil ich das schon immer gemacht habe. Und naja - ich bin auch ein Machtmensch, das heißt, ich will Leute rumkommandieren, ihnen sagen, was sie machen sollen. Also wollte ich Regisseurin werden.
Wellinski: Und dann haben Film studiert und zwar an der berühmten Filmhochschule in Prag. Welchen Einfluss hatte das Tschechische Kino auf Sie und Ihre Filme?
Holland: Ja ich ging nach Prag. Ich habe mich da sogar noch vor dem Abitur angemeldet. Dieses tschechische Kino hatte gerade seine Glanzzeit. Es war jung, vital und aufregend. Filme von Milos Forman zum Beispiel oder die von Jan Nemec oder Věra Chytilová. Das hat mich schon sehr beeindruck. So wollte ich sein und viel davon habe ich geradezu aufgesogen. Doch viel prägender waren die politischen Vorgänge im damaligen Prag. Ich habe den Prager Frühling erlebt, den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes. Ich habe gesehen, wie dieser Karneval der Hoffnung brutal niedergemacht worden ist. Dann die Zeit, die die Tschechen die "Normalisation" nannten, was aber nichts anderes als eine reine Stalinisierung war und das ging so leicht, wissen Sie. Ich habe das nicht glauben können. Ich habe gesehen, wie leicht Menschen wieder auf Linie gebracht worden sind, die noch kurz davor Widerstand geleistet hatten. Ich mußte miterleben ,wie man ihnen alle Hoffnung, allen Mut und Kampfgeist raubte. Und das war meine tschechische Erfahrung, die meine Arbeit auf ewig geformt hat.
"Ich habe nicht sentimentalisiert oder vereinfacht"
Wellinski: Wenn man jetzt auf Ihre Filme blickt, dann erkennt man zwei rote Linien. Das eine ist so eine Art Transnationalismus, weil sie in vielen Ländern und Sprachen gedreht haben. Das andere ist der Blick zurück in die Geschichte und auch in die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Ihre Filme "Hitlerjunge Salomon" und "In Darkness" handeln davon. Wie haben Sie das jetzt für sich verarbeitet, als Geschichtenerzählerin, was kann das Kino vom Unerzählbaren erzählen?
Holland: Der Holocaust war eine Grenzerfahrung der Menschheit. Etwas, das wir nie ganz zu Ende durchdringen werden. Wir werden nie begreifen, wie wir zu so etwas Grausamen fähig waren. Und viele meinen ja, dass man davon –gar nicht im vereinfachender Weise in der Form des Spielfilms – erzählen kann. Sie sagen, das etwas, dass man nicht bis in den letzten Winkel durchdringen kann, eben nicht verfilmt werden sollte. Ich denke, dass das sicherlich zu einem gewissen Teil stimmt. Auch ich bin mir dieser Grenze bewusst. Immer wenn ich mich diesen Themen nähern muss, merkte ich, dass es da dieses Unausgesprochene, Unerklärliche Hemmnis gibt, dass ich nie einfach überwinden werde. Auf der anderen Seite, als Künstlerin, muss ich diese Hemmnisse erforschen. Alles andere wäre ja Selbstzensur. Und ich habe den Drang nun mal gewisse Dinge zu erzählen. Der andere Aspekt ist die wichtige pädagogische Funktion solcher Filme.
Alle Filme, auch die simpleren und weniger komplexen funktionieren als Teil der Erinnerungskultur und wirken wider das Vergessen. Serien wie "Holocaust" und Filme wie "Schindlers Liste" oder vielleicht ja mein "Hitlerjunge Salomon" können helfen, dass sich die Menschen erinnern. Denn nur der Film kann die Funktion des Erinnerns so lebhaft und emotional darstellen. Deshalb habe ich meine Filme gemacht. Ich bereue sie nicht. Ich habe nicht sentimentalisiert oder vereinfacht. Ich habe nie behauptetet, dass das Morden einen Sinn machte. Dass das alles erklärbar ist, dass die Opfer immer gut waren und die Täter immer schlecht. Ich wollte zeigen, dass die Grenze sehr schmal ist und das jeder sie überschreiten kann. Alle die von sich behaupten nur gut zu sein, sind ja per se Heilig und man sollte sich sofort überlegen, wo deren Geheimnis ist und was hinter dem Gen des Guten tatsächlich steckt.
Wellinski: Als Frau sind Sie in der Welt der Regisseure relativ alleine. Die Debatte um eine Quote ist gerade sehr aktuell. Wie sehen Sie das. Haben es Frauen im Filmgeschäft schwerer?
Holland: Ja, das haben Sie und das hat mehrere Gründe: innere und äußere. Fangen wir mit den äußeren an: Es gibt in dieser Branche aber auch in unserer Gesellschaft eine Gläserner Decke. Das ist für mich klar. Lange Zeit war es ja so, dass vor allem Männer ins Kino gingen und die Frauen gingen nur mit und durften nicht entscheiden, was es zu sehen gab. Das ändert sich jetzt drastisch und das ändert ja auch die Art der Filme. In der Branche selbst ist ein Problem, dass die meisten Produzenten und Festivalleiter Männer sind. Und so befürworten sie, auch unbewusst, einen gewissen Blickpunkt auf die Welt und das Kino. Und das ist eben ein männlicher dominierter.
Ich hatte da gerade wieder so ein Erlebnis. Wissen Sie, ich bin Mitglied einer Kommission, die Fördergelder verteilt. Ich bin die einzige Frau. Und wir bewerten Drehbücher und entscheiden welches Projekt wir fördern und welches nicht. Und es gab da so zwei, drei Projekte, die von Regisseurinnen stammten. Und die Geschichte hatten weibliche Helden und waren zudem noch aus der weiblichen Perspektive erzählt. Wobei sie nicht ansatzweise feministisch waren, nein, eben nur weiblich. Und meine Kollegen haben das ganz und gar nicht begriffen. Es war schockierend. Wie sie über diese Stoffe sprachen! Sie haben sie als flach und plump bezeichnet. Dann haben sie auch noch über die Psychologie dieser Figuren gesprochen ... das war für mich monströs.
Und dann habe ich begriffen, solange nur Männer auch an dieser Stelle entscheiden welche Stoffe entstehen und welche nicht, werden Frauen es sehr schwer haben.
Natürlich gibt es Frauen, die es schaffen, die Filme aus dieser dominanten Sicht machen können und sich so durch diese gläserne Decke kämpfen. Aber ich denke, dass das so nicht sein muss! Die Perspektive ist doch fundamental. Wenn Sie einen Film über den Krieg drehen, dann ist eben entscheidend, ob sie einen deutschen Soldaten in den Fokus stellen oder einen polnischen, weil das eine andere Erlebniswelt war.
Die polnische Filmemacherin Agnieszka Holland zu Gast bei Deutschlandradio Kultur
Die polnische Filmemacherin Agnieszka Holland zu Gast bei Deutschlandradio Kultur© Sven Crefeld / Deutschlandradio Kultur
Ich denke auch, dass es doch genau das ist, was unser Leben und unsere Kultur so aufregend macht. Die unterschiedlichen Erlebniswelten. Je mehr und unterschiedlicher, desto besser. Aber im Kino ist das leider nicht so. Nehmen Sie doch mal Agnes Varda. Sie machte schon immer ihre Filme auf ihre Weise und dennoch sind die Filme ihrer männlichen Kollegen bekannter und beliebter, obwohl sie nicht besser sind, häufig sogar schlechter.
Und dann vergessen Sie nicht die inneren Umstände. Als Frau muss man in diesem Beruf eine unbändige Energie. Eine Energie, die es einem erlaubt Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Das ist nun mal ein Problem und viele Frauen scheitern daran. Männer gehen Filme drehen und ihre Frauen erziehen. Das wird sich so schnell auch nicht ändern. Aber es gibt immer wieder Frauen, die sich das erlauben. Malgorzata Szumowska ist so eine. Die hat – glaube ich - drei Männer und auch noch Kinder und sie macht dennoch Filme wie sie und wann sie will und lässt sich durch nichts aufhalten. Sie hat diese Energie. Möge sie ewig anhalten.
Wellinski: Auch Sie sind ja voll von dieser Energie, deshalb arbeiten Sie auch neben dem Kino sehr häufig im Fernsehen. Sie haben Serien mitgedreht wie "The Wire"; "Treme" oder jetzt auch "House of Cards". Haben Sie in der Welt der Serien mehr Freiheiten als Regisseurin?
Holland: Das ist gar keine Frage der Freiheit. Man muss ja sagen, dass "Serie" für einen Regisseur nicht gleich "Serie" ist. Nehmen Sie mal das Prinzip der "Miniserie". Das ist ja nichts anderes als ein etwas längerer Film. Der dauert dann halt nicht zwei Stunden, sondern sechs und erlaubt es mir als Regisseurin epischer zu erzählen, nicht zu hetzen, auch mal die Perspektiven zu wechseln und jeder Figur ihren Platz zu lassen. So habe ich das der HBO-Miniserie "Burning Bush" gemacht.
Das andere, das sind diese großen, langen Serien, die viele Staffeln dauern. Das sind schon ganz andere Narrative. Das erinnert mehr an die Erzählungen und die frühen Romane des 19. Jahrhunderts, die damals ja auch Kapitel für Kapitel in Magazinen und Zeitungen veröffentlicht worden sind. Und ich denke, dass wir diese Art der epischen Erzählung jetzt aus denselben Gründen brauchen, wie sie die Menschen Ende des 19. Jahrhunderts brauchten. Weil wir eben auch in einer Zeitenwende leben.
Damals änderte sich die Welt durch die industrielle Revolution. Heute ist es die digitale Revolution. Die Welt ändert sich und das synthetische Erzählen, nach Mustern und Formen kommt nicht mehr hinter her und man braucht das epische Erzählen als eine Art Gegengift. Und plötzlich hat sich gezeigt, dass das Kino da nicht mehr mitkommt. Es hat sich gespalten in ein rein kommerziell ausgerichtetes Blockbusterkino und in ein Festivalkino. Und in der Mitte klafft ein Loch. Und dieses Loch füllen die Serien. Und wenn jemand wie ich eine Geschichteerzählerin ist, der kann sich hier austoben und das noch unter sehr guten Umständen. Die paar Serien, die ich machen durfte, waren für mich ein intellektuelles aber auch berufliches Vergnügen.
Diese Art von Dienstleistung, die man ja macht, wenn man eine Folge einer Serie wie "House of Cards" dreht, ist auch eine gute Art seine künstlerischen Batterien aufzufüllen. Das dauert maximal zwei Monate. Ich arbeite mit einem guten Skript, mit professionellen Teams und Darstellern. Das macht Spaß und danach bin ich fit für die härtere Arbeit eines Kinofilms.
Außerdem bleibt man am Puls der Zeit. Wissen Sie, wenn ich mich mit einem jungen Publikum treffe oder sogar mit Filmschülern, dann merke ich, dass die mittlerweile einen Serienkanon auswendig können aber eben nicht mehr den der Kinogeschichte. Und wenn das Kino nicht abgehängt werden will muss es viel intensiver um den Zuschauer buhlen. Und deshalb – um an den Anfang des Gespräches zurück zu kommen – hatte Pawlikowskis Ida so einen Erfolg, weil er anderes war, weil er das machte, was Serien nicht können und damit jenen Platz eingenommen hat, den viele Filmemacher nicht mehr suchen. Dieses "Kino der Mitte": das ist die Zukunft.
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