Das Personal vom Weißen Hirsch
Das Dresdner Villenviertel Weißer Hirsch, das hoch über dem Blauen Wunder thront wie eine alternde, aus der Form gegangene, aber immer noch bezaubernde Diva, ist aufgescheucht. Aufgescheucht weniger von den ersten Touristen, die schon mit Uwe Tellkamps dickem Roman "Der Turm" unterm Arm um die einst verfallenen und jetzt meist noblen Häuser schleichen.
Aufgescheucht sind auch nicht die Neu-, sondern vielmehr die Alt-Bürger auf dem Weißen Hirsch. Denn das große Spiel "Who is who?" hat begonnen, seit Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" erschien, den Deutschen Buchpreis bekam und ganz oben auf der Bestsellerliste landete.
"Die elektrischen Zitronen aus dem VEB 'Narva', mit denen der Baum dekoriert war, flackerten hin und wieder auf und löschten die elbabwärts liegende Silhouette Dresdens. Von einem Kirchturm in der Ferne schlug es vier, was Christian wunderte."
So beginnt Uwe Tellkamps Buch "der Turm": Christian der junge Held, fährt nach Hause, hinauf auf den Weißen Hirsch. Mit der Standseilbahn. Und so beginnt auch heute noch jede Reise auf den "Balkon von Dresden".
"Christian nahm seine Tasche, suchte einen Groschen hervor. Er warf das Fahrgeld in den Münzkasten und zog den an der Seite befindlichen Hebel herab; das Zehnpfennigstück rutschte aus der Drehscheibe heraus und fiel zu den anderen auf den Boden."
"Abfahrt sagte die Stimme aus dem Lautsprecher. Der Wagen blieb noch einen Moment reglos am Ort, setzte sich dann ruhig in Bewegung. Christian nahm ein Buch aus der Tasche."
Ein Buch kann man heutzutage steckenlassen. Vorbei mit dem stillen Rumpeln.
Stattdessen: Beschallung.
Verwunschene Gärten und herrschaftliche Häuser tauchen am Fenster auf. Das Villenviertel Weißer Hirsch thront hoch über dem Blauen Wunder wie eine alternde, aus der Form gegangene, aber immer noch bezaubernde Diva.
Hier heißen die Häuser "Abendstern" und "Alpenrose", "Friedenseckchen" und "Frohsinn", "Villa Martha" oder:
Anlass zum Rätseln gibt es hier genug, in einer von wein- und efeuumrankten Welt, deren Häuserwände besiedelt sind von Putten und Faunen. Anlass zum Rätseln nicht nur für Touristen, sondern vor allem für die Bewohner auf dem Weißen Hirsch. Denn das große Spiel: Wer ist wer und wo ist was? hat begonnen, seit Tellkamps Roman erschien, den Deutschen Buchpreis bekam und ganz oben auf der Bestsellerliste landete.
Man muss gut zu Fuß sein auf dem Weißen Hirsch. Treppauf, treppauf, steile Straßen hoch und wieder hinunter. Aber vielleicht ist Horst Milde gerade deshalb 84 geworden und bei bester Gesundheit, weil ihm schon ein kleiner Spaziergang in seinem Viertel Kondition abverlangt wie bei einer Wanderung in der Sächsischen Schweiz? Horst Milde ist ein kleiner, feiner Herr mit Baskenmütze, die er weit zurückgeschoben trägt. Sein Blick durch die große Silberbrille ist so wie sein Name: Milde. Er schaut auf ein prachtvolles Haus.
Milde: "Sie sehen an dem Schmuck des Hauses viele Köpfe, Faune oder ähnliche Geisterfiguren. Und alles schauen sie auf die Straße hinunter, rund um das Haus geht das. Das ist das sogenannte Tausendaugenhaus. Er hat sie nicht gezählt, es sind nicht tausend Stück. Aber das kann ich jedem klarmachen, dass man das sagen kann."
Das Rätseln um Menschen, Häuser, Straßen und Ereignisse hat einen Fixpunkt: Horst Milde. Seit 1949 wohnt er auf dem Weißen Hirsch, hier war er der Briefmarkenhändler und der Ortschronist. Das Tausendaugenhaus steht im Buch in der "Planetenstraße", die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Hietzigstraße 4, Tausendaugenhaus, das war die erste Nuss, die Horst Milde knackte. Leichtes Spiel.
Milde: "Nu guggn Sie sich die Fratzen überall an! Und da sehen Sie auch mal ein hübsches Frauengesicht. Aber da oben ist wieder so einer der 'Revolution' brüllt …"
Der Weiße Hirsch ist ein Ort, an dem man eher leise "Revolution" gebrüllt hat. So auch in der Zeit, die Uwe Tellkamp beschreibt: die 80er Jahre in der DDR, wo sich hier oben die Intelligenzia der Stadt in einer aschegrauen, aber behaglichen Melancholie eingerichtet hatte. Milde selbst findet sich im Buch in dem sanftmütigen Briefmarkenhändler Malthakus wieder. Stolz hält der alte Herr eine Liste hoch.
Milde: "Das sind die Seitennummern, wo er mich erwähnt hat – lacht – der Herr Malthakus war ich. Ich habe hier: Horst Milde, in Klammern Malthakus dazugeschrieben, ja."
Spannend, sagt Malthakus-Milde, fand er es, auf dem schmalen Grat zwischen Dichtung und Wahrheit zu balancieren. Herauszubekommen, sich zu erinnern, was war tatsächlich so oder wenigstens fast so, was ist pure Phantasie? Man erlebt es schließlich nicht alle Tage, bei lebendigen Leibe zur Romanfigur zu werden.
Milde: "Wenn mal ein Platz im Autor frei war, wie sie zur Messe gefahren sind zum Beispiel, da waren drei Leute und da hat er mich noch mit hineingesetzt, obwohl ich nicht mit denen gefahren war. Ich bin auch immer zur Messe gewesen, aber nie mit ihm oder seinem Vater. Aber manchmal, beispielsweise bei Ardenne, da war ich eben mit dabei. Und da habe ich meinen Kindern Bananen mitgenommen, die nicht abgenommen worden waren! Und da hatte sich die Frau von Ardenne auch gleich rumgedreht und mir zugenickt: Immer nehmse. Immer nehmse …"
"Oh, ich glaube, der Baron möchte Sie sprechen. Soll ich derweil ... für Sie tätig werden?" Malthakus blickte sich rasch um und zog den Zipfel eines Plastebeutels aus der Hosentasche. "Wir haben doch bis zur Wolfsleite den gleichen Heimweg – dann Übergabe der betreffenden Ware!" Meno musste lächeln über den blauen Unschuldsblick des Briefmarkenhändlers, die geraunten Worte hinter erhobener Hand."
Zu den illustren URANIA-Abenden in der Arbogastschen, also der Ardenne-Villa, war Horst Milde öfter zu Gast und hielt dort auch Vorträge zur Geschichte des Weißen Hirschs und des einst berühmten Lahmann-Sanatoriums, das den Stadtteil in fernen Zeiten zum Luftkurort machte. An diese Tradition wollte Manfred von Ardenne mit seiner Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie anknüpfen. Im Buch lebt der bereits seit elf Jahren verstorbene Wissenschaftler als schillernder sozialistischer Kapitalist auf.
Milde: "Er ging mit dem Spazierstöckchen, das stimmt. Aber auf den Tennisplatz ging er nicht mit dem Spazierstöckchen! Da hat er sich bloß geärgert, wenn der Kuckuck in der Nähe war. Dann hat er gesagt: Abschießen! Das steht auch hier drinne."
Gestaunt hat Herr Milde, als er auch seine Ballerina in Tellkamps "Turm" wiederfand, erwähnt als Utensil, das man im Intershop kaufen kann. Die Geschichte dazu geht so: Stehen eines Tages ein paar Syrer in Mildes Laden.
Milde: "Ich hatte es am Pass gesehen, dass es Syrer waren. Die kriegten ihr Geld nicht umgetauscht. Was haben Sie denn für Geld? –Dollar.- Und da haben sie mich gefragt, ob ich die Dollars nehme. Ich sage: Ja – lacht – und da haben wir uns die Ballerina gekauft. Das ist ein Bols-Likör, ein Bananenlikör, und wenn man aufzieht, dann tanzt die Puppe da drinne ..."
Flugs steigt der 84-Jährige auf einen Hocker, um die Ballerina vom Sims der Schrankwand zu angeln.
Vorsichtig hält der alte Mann die Flasche in den Händen. Die kleine Ballerina dreht sich auf einem Bein im angejahrten, schon bräunlichen Bananenlikör. Horst Mildes Augen leuchten.
Milde: "... ja, da haben wir 100 Dollar im Intershop umgesetzt – lacht – und da haben wir uns solchen Mist gekooft! Bols Ballerina!"
Herr Milde eilt zum Telefon. Es dauert, bis er zurückkommt. Frau Milde setzt sich auch mit an den Tisch.
Milde: "Es vergeht kein Tag, wo nicht ein Anruf kommt. Ob ich nicht wüsste, ob die Villa Abendstern die Villa Abendstern ist, die er meint. Weil das nun im Text nicht passt. Die gehen den Weißen Hirsch ab, um das zu finden – Frau Milde: Die Leser, die sich dafür interessieren. Milde: Die den Weißen Hirsch nicht so genau kennen. Und die ihn genau kennen, die fragen mich dann bloß noch: Ach, das habsch mir gedacht!"
"Haus Elefant = Küntzelmannstraße 8
Italienisches Haus = Villa Elbblick, Hermann Prell-Straße 14
Buchensteig = unterer Teil der Plattleite
Kosmonutenweg = Josef-Hermann-Straße
Ostrom = alles westlich der Grundstraße
Planetenweg = Hietzigstraße
Rote Bergfrau = Rote Weißeritz
Schneckenstein = Schloß Wachwitz
Paradiesvogelbar= Kakadubar"
Für alle, denen dieses Licht nicht so schnell aufgeht, hat Horst Milde eine Liste zusammengestellt. Eine Entschlüssel-Liste sozusagen, nach der man den Weißen Hirsch abgehen kann und nicht gegen eine Mauer läuft - wie es Lesern passiert, die nach Tellkamps verschlüsselter Skizze auf dem Buchdeckel die Schauplätze aufsuchen wollen.
Manchmal hat Herr Milde auch noch ein Fragezeichen dahinter gesetzt, aber egal, die Liste muß raus, sonst kann er sich hier vor Anrufen nicht mehr retten. Und so gab er die Entschlüsselung in die Redaktion des Stadtteilblattes "Elbhangkuriers", um sie unter die Leute zu bringen.
Milde: "Aber ich hab jetzt auch unserer Buchhandlung am Schillerplatz ein solches Exemplar gegeben, und die haben es offenbar auch vervielfältigt. Denn ich sprach jetzt mit einem Herrn, der sich das Buch dort unten geholt hat und der sagte: Ich habs mir angeguckt, aber die habens mir nicht gern gegeben! Aber ich hab so lange geknöchert, bis sie es rausgerückt haben – lacht – also das sind Leute, die sich für das interessieren, was hier versteckt worden ist."
"Kellner Adeling = Herr Rudolph
Pospischil = Ernst Langer
Barsano = Hans Modrow"
Genauso tat er es mit der Who is Who-Personenliste. Dahinter: keine Fragezeichen, so sicher ist sich der alte Ortschronist.
Gar nicht zu rätseln, ob sie nun gemeint sind oder nicht, brauchte man in der Feinbäckerei Walther. Man fungiert sozusagen unter Klarnamen in dem Buch, wie manch andere Figur und manch anderer Ort auch. Nur, dass Bäckerei Walter nicht in der Rißleite liegt, denn die gibt es nicht, sondern im Rißweg. Aber das war nun wirklich zu einfach. Hartmut Walther, seit 45 Jahren der Bäcker hier, fand in Tellkamps Buch sogar seine Brötchen in einer "Ode an die Semmel" besungen. Frau Walther greift zum Buch.
"Dich, oh vollblütige Dresdner Semmel will ich besingen
Die du so prächtig und pausbäckig forderst die Freßsucht.
Doc kommst du, sag an, von Elysiums Konsum?
Hat vom volkseigenen Backblech geschabt dich der Bäcker Noppe?
Stammst du aus Wachendorfs gemütvoll bemehltem Geschäfte,
aus Walthers oder Bäcker Georges frühmorgendlich mürrischen Körben?"
Ein Exemplar von Tellkamps Turm kursiert derzeit in der v. Familie Walther. Als erster gelesen hat es Frank Walther, des Bäckermeisters Sohn und selbst längst Bäckermeister, einst Schulkamerad Tellkamps auf dem Weißen Hirsch.
Walther: "Für uns, die es direkt betrifft oder für die Leute, die hier auf dem Weißen Hirsch wohnen, ist das vielleicht am meisten interessant. Es ist Heimatgeschichte und Erinnerung. Die Kohlenhandlung auf dem Rißweg hinten, mit den beiden Kohlenträgern, die da beschrieben werden – lacht – die sich ständig grüßenden Standseilbahnfahrer, wenn sie sich begegnet sind oder die knarrende Stimme im Mikrofon da. Das sind eigentlich viele Sachen, das taucht immer mal wieder off."
Was weniger auftaucht, ist die Stammkundschaft von einst: Die Bewohnerschaft auf dem Weißen Hirsch hat sich gewechselt, registriert Alt-Bäckermeister Hartmut Walther.
Walther: "Die Kundschaft hat sich verändert. Es sind Wohlbetuchte hergezogen und viele haben ihre Häuser verkauft. An und für sich sind viele neu Hinzugezogene. Das Verhältnis ist sehr gut. Muss ich sagen, wir haben Nachbarn, Professoren, Doktoren, die sich genauso eingegliedert haben wie wir auch. Das Geld fehlte ja zum Sanieren, und unsere Ostdeutschen hatten wenig Geld zum Sanieren. Und dadurch st das schon ä schönes Stadtbild geworden hier."
Tellkamps recht drastische Schilderungen der Wohnsituation auf dem Weißen Hirsch hält der Bäcker nicht für übertrieben. Er selbst griff einmal zum Äußersten: Obwohl selbst Hauseigentümer, jedoch mit übervoll belegten Wohnungen, drohte er 1989 dem Rat der Stadt Dresden seinen Laden zu schließen, wenn nicht sein Sohn und dessen Familie endlich die jahrelang zugesicherte Wohnung bekämen. Die Drohung half.
Walther: "Das war so damals. Ich habe selber zwei Häuser gehabt und es war schwierig, so ä Haus instand zu halten. Es gab kein Material zum Bauen, keine Bilanz zum Bauen und kein Geld zum Bauen. Das war schon `ne andere Zeit wie jetzt."
Im "Turm", dessen Titel ja schon auf das Oben-Sein und Abgeschlossen-Sein hinweist, bekommt man auch die Gemeinschaft vorgeführt, die sich unter diesen Verhältnissen bildete. Notgemeinschaft, sagen manche.
Walther: "Das war ein bisschen mehr. Der Zusammenhalt war schon immer gut und geholfen haben wir uns gegenseitig. Und das schätzen die Westler, die zu uns jetzt rüber gekommen sind, das schätzen die sehr. Im Nachbarhaus hatten wir einen Doktor aus München, der hat das so geschätzt, der ist ungerne zurück, weil der `ne Praxis in München eröffnet hat. Das war schon `ne schöne Sache, wir haben zusammengehalten. Nicht nur, weil man musste, die Sachsen sind ja auch dafür bekannt, dass die gemiedlich sind und so. Das war schon in Ordnung."
Mit Ruhe und Gemütlichkeit überstand man in der Feinbäckerei Walther auch die aufregenden Tage im November 89. Uwe Tellkamp schildert, wie sich die Bewohnerschaft zu einem kleinen Demonstrationszüglein sammelt.
"Einen Moment lang bleiben sie unschlüssig – die Ulmenleite hinunter zur Kirche oder die Rißleite entlang Richtung Bäckerei Walther? Die Warteschlange davor flockte aus, wurde schütter, löste sich auf, die Verkäuferinnen blickten aus dem Laden, knüllten die Schürzenschöße in den Händen. "Bringt Semmeln mit!" rief einer, Hände winkten, Rufe "Schließt euch an, wir brauchen jeden Mann!"
Walther: "Das war ja im November gewesen – da waren wir trotz allem, trotz Untergang – da ging es bei uns trotzdem weiter. Da waren wir im Weihnachtsgeschäft gewesen, und das war damals Mangelwirtschaft, da gab’s für Bäcker immer genügend zu tun. Und deswegen war ich dort nicht mit dabei, schon einfach weil aus beruflichen Gründen dafür keine Zeit gewesen ist."
Revolution oder Stollen, das war die Frage, die in der Backstube zu entscheiden war. Die Antwort war klar:
Walther: "Das Stollengeschäft geht vor!"
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das Stollengeschäft geht vor. Wenn auch nicht mehr in den Massen wie früher, aber immer noch mit reichlich Butter, denn nichts hasst der Dresdner mehr als einen Stollen, der zu "krümlisch" ist –also in Ermangelung von Fett vor sich hin krümelt. Hartmut Walter taucht den Pinsel tief in die Schüssel mit der geschmolzenen Butter.
Walther: "In der DDR haben wir 25 bis 30 Tonnen produziert. Jetzt ist es etwas weniger – lacht – etwas. Wir hatten Großbetriebe, Robotron, Staatssicherheit – das kann man ruhig sagen, das war so! Die ham ihre Zutaten mitgebracht, so wie es dort in dem Buch drinne stand. Das war das Einzige, wo die Kunden die Zutaten mitbringen mussten, bei der Staatssicherheit. Weil ich die nicht von meinem Kontingent nehmen konnte für diese Menge, die sie bekommen haben. Das war das einzige, wo die Kunden die Rohstoffe mitbringen mussten."
Heute ist vor dem Bäckerladen Stollenverkostung. Stollen umsonst, Glühwein ein Euro. Der Herr ganz vorn in der Schlange weiß was mit "Tellkamp" und "Turm" anzufangen.
"Der hat ja mal direkt neben uns gewohnt! Wir hatten ein Haus gebaut und er wohnte im Nebenhaus ..."
Der Herr im grauen Blouson legt streng dokumentarische Maßstäbe an das Werk - und weiß noch nicht so recht, ob er es gut finden soll.
"Na, so teils, teils. Manches entspricht nicht ganz so den Tatsachen –... Wollen Se ma probieren? Und `n Glühwein dazu? Stollen kriegen Se bei uns umsonst, Glühwein ein Euro ..."
Die Stollenverkäuferin Frau Wiedmer trägt den Vornamen Salome, der gut zum Weißen Hirsch passt. Ihre Eltern haben einst bei Manfred von Ardenne, im Buch Baron Arbogast, gearbeitet.
Wiedmer: "Meine Mutti war Telefonistin, mein Vati Heizer. Ich war als Kind viel dort oben. –Sind Sie dem Ardenne mal begegnet? – Sagen wir mal so: der Frau. Den hab ich nie gesehen, aber die Frau. Aber ich war Kind, wie gesagt, und die waren immer was Bessres, keene Ahnung. Aber meine Eltern haben gerne dort gearbeitet."
Zum Lesen des "Turms" ist Salome Wiedmer noch nicht gekommen.
Wiedmer: "Wenn ich’s vielleicht hätte, würd ich es och lesen – aber wie gesagt, gar keene Zeit. Muss ja off Arbeit –... zweesibzsch, passend, wenn’s geht ..."
Tja, ohne diese Arbeitseinstellung –Stollen geht vor Revolution, also auch vor Bücherlesen – ist beim Feinbäcker Walter halt nichts zu machen. Mit einer laxeren Haltung und weniger schmackhaften Produkten hätte man es schließlich auch nie bis in einen Roman geschafft!
"Wie nur nenne ich dich, du gebackene Bratsche,
Gummigaumen, Dampfdattel, Dresdner Dudelsack,
kunstgesüßte Knuddelkuppel, wie nur, stumme Dulderin
höllischer Hitze, du Meisterstück des sächsischen Genius`,
oh Semmel!"
"Die elektrischen Zitronen aus dem VEB 'Narva', mit denen der Baum dekoriert war, flackerten hin und wieder auf und löschten die elbabwärts liegende Silhouette Dresdens. Von einem Kirchturm in der Ferne schlug es vier, was Christian wunderte."
So beginnt Uwe Tellkamps Buch "der Turm": Christian der junge Held, fährt nach Hause, hinauf auf den Weißen Hirsch. Mit der Standseilbahn. Und so beginnt auch heute noch jede Reise auf den "Balkon von Dresden".
"Christian nahm seine Tasche, suchte einen Groschen hervor. Er warf das Fahrgeld in den Münzkasten und zog den an der Seite befindlichen Hebel herab; das Zehnpfennigstück rutschte aus der Drehscheibe heraus und fiel zu den anderen auf den Boden."
"Abfahrt sagte die Stimme aus dem Lautsprecher. Der Wagen blieb noch einen Moment reglos am Ort, setzte sich dann ruhig in Bewegung. Christian nahm ein Buch aus der Tasche."
Ein Buch kann man heutzutage steckenlassen. Vorbei mit dem stillen Rumpeln.
Stattdessen: Beschallung.
Verwunschene Gärten und herrschaftliche Häuser tauchen am Fenster auf. Das Villenviertel Weißer Hirsch thront hoch über dem Blauen Wunder wie eine alternde, aus der Form gegangene, aber immer noch bezaubernde Diva.
Hier heißen die Häuser "Abendstern" und "Alpenrose", "Friedenseckchen" und "Frohsinn", "Villa Martha" oder:
Anlass zum Rätseln gibt es hier genug, in einer von wein- und efeuumrankten Welt, deren Häuserwände besiedelt sind von Putten und Faunen. Anlass zum Rätseln nicht nur für Touristen, sondern vor allem für die Bewohner auf dem Weißen Hirsch. Denn das große Spiel: Wer ist wer und wo ist was? hat begonnen, seit Tellkamps Roman erschien, den Deutschen Buchpreis bekam und ganz oben auf der Bestsellerliste landete.
Man muss gut zu Fuß sein auf dem Weißen Hirsch. Treppauf, treppauf, steile Straßen hoch und wieder hinunter. Aber vielleicht ist Horst Milde gerade deshalb 84 geworden und bei bester Gesundheit, weil ihm schon ein kleiner Spaziergang in seinem Viertel Kondition abverlangt wie bei einer Wanderung in der Sächsischen Schweiz? Horst Milde ist ein kleiner, feiner Herr mit Baskenmütze, die er weit zurückgeschoben trägt. Sein Blick durch die große Silberbrille ist so wie sein Name: Milde. Er schaut auf ein prachtvolles Haus.
Milde: "Sie sehen an dem Schmuck des Hauses viele Köpfe, Faune oder ähnliche Geisterfiguren. Und alles schauen sie auf die Straße hinunter, rund um das Haus geht das. Das ist das sogenannte Tausendaugenhaus. Er hat sie nicht gezählt, es sind nicht tausend Stück. Aber das kann ich jedem klarmachen, dass man das sagen kann."
Das Rätseln um Menschen, Häuser, Straßen und Ereignisse hat einen Fixpunkt: Horst Milde. Seit 1949 wohnt er auf dem Weißen Hirsch, hier war er der Briefmarkenhändler und der Ortschronist. Das Tausendaugenhaus steht im Buch in der "Planetenstraße", die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Hietzigstraße 4, Tausendaugenhaus, das war die erste Nuss, die Horst Milde knackte. Leichtes Spiel.
Milde: "Nu guggn Sie sich die Fratzen überall an! Und da sehen Sie auch mal ein hübsches Frauengesicht. Aber da oben ist wieder so einer der 'Revolution' brüllt …"
Der Weiße Hirsch ist ein Ort, an dem man eher leise "Revolution" gebrüllt hat. So auch in der Zeit, die Uwe Tellkamp beschreibt: die 80er Jahre in der DDR, wo sich hier oben die Intelligenzia der Stadt in einer aschegrauen, aber behaglichen Melancholie eingerichtet hatte. Milde selbst findet sich im Buch in dem sanftmütigen Briefmarkenhändler Malthakus wieder. Stolz hält der alte Herr eine Liste hoch.
Milde: "Das sind die Seitennummern, wo er mich erwähnt hat – lacht – der Herr Malthakus war ich. Ich habe hier: Horst Milde, in Klammern Malthakus dazugeschrieben, ja."
Spannend, sagt Malthakus-Milde, fand er es, auf dem schmalen Grat zwischen Dichtung und Wahrheit zu balancieren. Herauszubekommen, sich zu erinnern, was war tatsächlich so oder wenigstens fast so, was ist pure Phantasie? Man erlebt es schließlich nicht alle Tage, bei lebendigen Leibe zur Romanfigur zu werden.
Milde: "Wenn mal ein Platz im Autor frei war, wie sie zur Messe gefahren sind zum Beispiel, da waren drei Leute und da hat er mich noch mit hineingesetzt, obwohl ich nicht mit denen gefahren war. Ich bin auch immer zur Messe gewesen, aber nie mit ihm oder seinem Vater. Aber manchmal, beispielsweise bei Ardenne, da war ich eben mit dabei. Und da habe ich meinen Kindern Bananen mitgenommen, die nicht abgenommen worden waren! Und da hatte sich die Frau von Ardenne auch gleich rumgedreht und mir zugenickt: Immer nehmse. Immer nehmse …"
"Oh, ich glaube, der Baron möchte Sie sprechen. Soll ich derweil ... für Sie tätig werden?" Malthakus blickte sich rasch um und zog den Zipfel eines Plastebeutels aus der Hosentasche. "Wir haben doch bis zur Wolfsleite den gleichen Heimweg – dann Übergabe der betreffenden Ware!" Meno musste lächeln über den blauen Unschuldsblick des Briefmarkenhändlers, die geraunten Worte hinter erhobener Hand."
Zu den illustren URANIA-Abenden in der Arbogastschen, also der Ardenne-Villa, war Horst Milde öfter zu Gast und hielt dort auch Vorträge zur Geschichte des Weißen Hirschs und des einst berühmten Lahmann-Sanatoriums, das den Stadtteil in fernen Zeiten zum Luftkurort machte. An diese Tradition wollte Manfred von Ardenne mit seiner Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie anknüpfen. Im Buch lebt der bereits seit elf Jahren verstorbene Wissenschaftler als schillernder sozialistischer Kapitalist auf.
Milde: "Er ging mit dem Spazierstöckchen, das stimmt. Aber auf den Tennisplatz ging er nicht mit dem Spazierstöckchen! Da hat er sich bloß geärgert, wenn der Kuckuck in der Nähe war. Dann hat er gesagt: Abschießen! Das steht auch hier drinne."
Gestaunt hat Herr Milde, als er auch seine Ballerina in Tellkamps "Turm" wiederfand, erwähnt als Utensil, das man im Intershop kaufen kann. Die Geschichte dazu geht so: Stehen eines Tages ein paar Syrer in Mildes Laden.
Milde: "Ich hatte es am Pass gesehen, dass es Syrer waren. Die kriegten ihr Geld nicht umgetauscht. Was haben Sie denn für Geld? –Dollar.- Und da haben sie mich gefragt, ob ich die Dollars nehme. Ich sage: Ja – lacht – und da haben wir uns die Ballerina gekauft. Das ist ein Bols-Likör, ein Bananenlikör, und wenn man aufzieht, dann tanzt die Puppe da drinne ..."
Flugs steigt der 84-Jährige auf einen Hocker, um die Ballerina vom Sims der Schrankwand zu angeln.
Vorsichtig hält der alte Mann die Flasche in den Händen. Die kleine Ballerina dreht sich auf einem Bein im angejahrten, schon bräunlichen Bananenlikör. Horst Mildes Augen leuchten.
Milde: "... ja, da haben wir 100 Dollar im Intershop umgesetzt – lacht – und da haben wir uns solchen Mist gekooft! Bols Ballerina!"
Herr Milde eilt zum Telefon. Es dauert, bis er zurückkommt. Frau Milde setzt sich auch mit an den Tisch.
Milde: "Es vergeht kein Tag, wo nicht ein Anruf kommt. Ob ich nicht wüsste, ob die Villa Abendstern die Villa Abendstern ist, die er meint. Weil das nun im Text nicht passt. Die gehen den Weißen Hirsch ab, um das zu finden – Frau Milde: Die Leser, die sich dafür interessieren. Milde: Die den Weißen Hirsch nicht so genau kennen. Und die ihn genau kennen, die fragen mich dann bloß noch: Ach, das habsch mir gedacht!"
"Haus Elefant = Küntzelmannstraße 8
Italienisches Haus = Villa Elbblick, Hermann Prell-Straße 14
Buchensteig = unterer Teil der Plattleite
Kosmonutenweg = Josef-Hermann-Straße
Ostrom = alles westlich der Grundstraße
Planetenweg = Hietzigstraße
Rote Bergfrau = Rote Weißeritz
Schneckenstein = Schloß Wachwitz
Paradiesvogelbar= Kakadubar"
Für alle, denen dieses Licht nicht so schnell aufgeht, hat Horst Milde eine Liste zusammengestellt. Eine Entschlüssel-Liste sozusagen, nach der man den Weißen Hirsch abgehen kann und nicht gegen eine Mauer läuft - wie es Lesern passiert, die nach Tellkamps verschlüsselter Skizze auf dem Buchdeckel die Schauplätze aufsuchen wollen.
Manchmal hat Herr Milde auch noch ein Fragezeichen dahinter gesetzt, aber egal, die Liste muß raus, sonst kann er sich hier vor Anrufen nicht mehr retten. Und so gab er die Entschlüsselung in die Redaktion des Stadtteilblattes "Elbhangkuriers", um sie unter die Leute zu bringen.
Milde: "Aber ich hab jetzt auch unserer Buchhandlung am Schillerplatz ein solches Exemplar gegeben, und die haben es offenbar auch vervielfältigt. Denn ich sprach jetzt mit einem Herrn, der sich das Buch dort unten geholt hat und der sagte: Ich habs mir angeguckt, aber die habens mir nicht gern gegeben! Aber ich hab so lange geknöchert, bis sie es rausgerückt haben – lacht – also das sind Leute, die sich für das interessieren, was hier versteckt worden ist."
"Kellner Adeling = Herr Rudolph
Pospischil = Ernst Langer
Barsano = Hans Modrow"
Genauso tat er es mit der Who is Who-Personenliste. Dahinter: keine Fragezeichen, so sicher ist sich der alte Ortschronist.
Gar nicht zu rätseln, ob sie nun gemeint sind oder nicht, brauchte man in der Feinbäckerei Walther. Man fungiert sozusagen unter Klarnamen in dem Buch, wie manch andere Figur und manch anderer Ort auch. Nur, dass Bäckerei Walter nicht in der Rißleite liegt, denn die gibt es nicht, sondern im Rißweg. Aber das war nun wirklich zu einfach. Hartmut Walther, seit 45 Jahren der Bäcker hier, fand in Tellkamps Buch sogar seine Brötchen in einer "Ode an die Semmel" besungen. Frau Walther greift zum Buch.
"Dich, oh vollblütige Dresdner Semmel will ich besingen
Die du so prächtig und pausbäckig forderst die Freßsucht.
Doc kommst du, sag an, von Elysiums Konsum?
Hat vom volkseigenen Backblech geschabt dich der Bäcker Noppe?
Stammst du aus Wachendorfs gemütvoll bemehltem Geschäfte,
aus Walthers oder Bäcker Georges frühmorgendlich mürrischen Körben?"
Ein Exemplar von Tellkamps Turm kursiert derzeit in der v. Familie Walther. Als erster gelesen hat es Frank Walther, des Bäckermeisters Sohn und selbst längst Bäckermeister, einst Schulkamerad Tellkamps auf dem Weißen Hirsch.
Walther: "Für uns, die es direkt betrifft oder für die Leute, die hier auf dem Weißen Hirsch wohnen, ist das vielleicht am meisten interessant. Es ist Heimatgeschichte und Erinnerung. Die Kohlenhandlung auf dem Rißweg hinten, mit den beiden Kohlenträgern, die da beschrieben werden – lacht – die sich ständig grüßenden Standseilbahnfahrer, wenn sie sich begegnet sind oder die knarrende Stimme im Mikrofon da. Das sind eigentlich viele Sachen, das taucht immer mal wieder off."
Was weniger auftaucht, ist die Stammkundschaft von einst: Die Bewohnerschaft auf dem Weißen Hirsch hat sich gewechselt, registriert Alt-Bäckermeister Hartmut Walther.
Walther: "Die Kundschaft hat sich verändert. Es sind Wohlbetuchte hergezogen und viele haben ihre Häuser verkauft. An und für sich sind viele neu Hinzugezogene. Das Verhältnis ist sehr gut. Muss ich sagen, wir haben Nachbarn, Professoren, Doktoren, die sich genauso eingegliedert haben wie wir auch. Das Geld fehlte ja zum Sanieren, und unsere Ostdeutschen hatten wenig Geld zum Sanieren. Und dadurch st das schon ä schönes Stadtbild geworden hier."
Tellkamps recht drastische Schilderungen der Wohnsituation auf dem Weißen Hirsch hält der Bäcker nicht für übertrieben. Er selbst griff einmal zum Äußersten: Obwohl selbst Hauseigentümer, jedoch mit übervoll belegten Wohnungen, drohte er 1989 dem Rat der Stadt Dresden seinen Laden zu schließen, wenn nicht sein Sohn und dessen Familie endlich die jahrelang zugesicherte Wohnung bekämen. Die Drohung half.
Walther: "Das war so damals. Ich habe selber zwei Häuser gehabt und es war schwierig, so ä Haus instand zu halten. Es gab kein Material zum Bauen, keine Bilanz zum Bauen und kein Geld zum Bauen. Das war schon `ne andere Zeit wie jetzt."
Im "Turm", dessen Titel ja schon auf das Oben-Sein und Abgeschlossen-Sein hinweist, bekommt man auch die Gemeinschaft vorgeführt, die sich unter diesen Verhältnissen bildete. Notgemeinschaft, sagen manche.
Walther: "Das war ein bisschen mehr. Der Zusammenhalt war schon immer gut und geholfen haben wir uns gegenseitig. Und das schätzen die Westler, die zu uns jetzt rüber gekommen sind, das schätzen die sehr. Im Nachbarhaus hatten wir einen Doktor aus München, der hat das so geschätzt, der ist ungerne zurück, weil der `ne Praxis in München eröffnet hat. Das war schon `ne schöne Sache, wir haben zusammengehalten. Nicht nur, weil man musste, die Sachsen sind ja auch dafür bekannt, dass die gemiedlich sind und so. Das war schon in Ordnung."
Mit Ruhe und Gemütlichkeit überstand man in der Feinbäckerei Walther auch die aufregenden Tage im November 89. Uwe Tellkamp schildert, wie sich die Bewohnerschaft zu einem kleinen Demonstrationszüglein sammelt.
"Einen Moment lang bleiben sie unschlüssig – die Ulmenleite hinunter zur Kirche oder die Rißleite entlang Richtung Bäckerei Walther? Die Warteschlange davor flockte aus, wurde schütter, löste sich auf, die Verkäuferinnen blickten aus dem Laden, knüllten die Schürzenschöße in den Händen. "Bringt Semmeln mit!" rief einer, Hände winkten, Rufe "Schließt euch an, wir brauchen jeden Mann!"
Walther: "Das war ja im November gewesen – da waren wir trotz allem, trotz Untergang – da ging es bei uns trotzdem weiter. Da waren wir im Weihnachtsgeschäft gewesen, und das war damals Mangelwirtschaft, da gab’s für Bäcker immer genügend zu tun. Und deswegen war ich dort nicht mit dabei, schon einfach weil aus beruflichen Gründen dafür keine Zeit gewesen ist."
Revolution oder Stollen, das war die Frage, die in der Backstube zu entscheiden war. Die Antwort war klar:
Walther: "Das Stollengeschäft geht vor!"
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das Stollengeschäft geht vor. Wenn auch nicht mehr in den Massen wie früher, aber immer noch mit reichlich Butter, denn nichts hasst der Dresdner mehr als einen Stollen, der zu "krümlisch" ist –also in Ermangelung von Fett vor sich hin krümelt. Hartmut Walter taucht den Pinsel tief in die Schüssel mit der geschmolzenen Butter.
Walther: "In der DDR haben wir 25 bis 30 Tonnen produziert. Jetzt ist es etwas weniger – lacht – etwas. Wir hatten Großbetriebe, Robotron, Staatssicherheit – das kann man ruhig sagen, das war so! Die ham ihre Zutaten mitgebracht, so wie es dort in dem Buch drinne stand. Das war das Einzige, wo die Kunden die Zutaten mitbringen mussten, bei der Staatssicherheit. Weil ich die nicht von meinem Kontingent nehmen konnte für diese Menge, die sie bekommen haben. Das war das einzige, wo die Kunden die Rohstoffe mitbringen mussten."
Heute ist vor dem Bäckerladen Stollenverkostung. Stollen umsonst, Glühwein ein Euro. Der Herr ganz vorn in der Schlange weiß was mit "Tellkamp" und "Turm" anzufangen.
"Der hat ja mal direkt neben uns gewohnt! Wir hatten ein Haus gebaut und er wohnte im Nebenhaus ..."
Der Herr im grauen Blouson legt streng dokumentarische Maßstäbe an das Werk - und weiß noch nicht so recht, ob er es gut finden soll.
"Na, so teils, teils. Manches entspricht nicht ganz so den Tatsachen –... Wollen Se ma probieren? Und `n Glühwein dazu? Stollen kriegen Se bei uns umsonst, Glühwein ein Euro ..."
Die Stollenverkäuferin Frau Wiedmer trägt den Vornamen Salome, der gut zum Weißen Hirsch passt. Ihre Eltern haben einst bei Manfred von Ardenne, im Buch Baron Arbogast, gearbeitet.
Wiedmer: "Meine Mutti war Telefonistin, mein Vati Heizer. Ich war als Kind viel dort oben. –Sind Sie dem Ardenne mal begegnet? – Sagen wir mal so: der Frau. Den hab ich nie gesehen, aber die Frau. Aber ich war Kind, wie gesagt, und die waren immer was Bessres, keene Ahnung. Aber meine Eltern haben gerne dort gearbeitet."
Zum Lesen des "Turms" ist Salome Wiedmer noch nicht gekommen.
Wiedmer: "Wenn ich’s vielleicht hätte, würd ich es och lesen – aber wie gesagt, gar keene Zeit. Muss ja off Arbeit –... zweesibzsch, passend, wenn’s geht ..."
Tja, ohne diese Arbeitseinstellung –Stollen geht vor Revolution, also auch vor Bücherlesen – ist beim Feinbäcker Walter halt nichts zu machen. Mit einer laxeren Haltung und weniger schmackhaften Produkten hätte man es schließlich auch nie bis in einen Roman geschafft!
"Wie nur nenne ich dich, du gebackene Bratsche,
Gummigaumen, Dampfdattel, Dresdner Dudelsack,
kunstgesüßte Knuddelkuppel, wie nur, stumme Dulderin
höllischer Hitze, du Meisterstück des sächsischen Genius`,
oh Semmel!"