"Das Paralympische Komitee hat seine Seele verkauft"

Otto Schantz im Gespräch mit Frank Meyer · 05.09.2008
Scharfe Kritik an den Paralympischen Spielen hat der Professor der Universität Koblenz-Landau, Otto Schantz, geübt. Das Ziel einer Integration des paralympischen in den olympischen Sport sei aufgegeben worden. Mit ein bisschen Fantasie sei es möglich, Wettkämpfe zu organisieren, bei denen Behinderte und Nichtbehinderte mit- oder gegeneinander kämpfen könnten.
Frank Meyer: 4000 Athleten aus 150 Nationen werden ab morgen in Peking um Medaillen kämpfen. Die chinesischen Ausrichter der Paralympics versuchen, diesen Wettkämpfen den gleichen Glanz zu geben, wie den Olympischen Spielen, das zeigen erste Berichte. Was bringen die Paralympics tatsächlich für Behinderte? Der Sportwissenschaftler Otto Schantz hat sich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Er ist Professor an der Universität Koblenz-Landau und er hat ein Buch über die Paralympics mit herausgegeben. Otto Schantz, Sie sagen, die Paralympics tragen zu wenig zur Integration von Behinderten bei. Aus welchen Gründen sehen Sie das denn so?

Otto Schantz: Bis in die 90er-Jahre war die Integration des paralympischen Sports in den olympischen Sport oder zumindest die Gleichstellung mit dem olympischen Sport ein explizites Ziel der paralympischen Bewegung. 2001 und 2003 hat das Internationale Olympische Komitee und das Internationale Paralympische Komitee Verträge abgeschlossen, die zwar die Rahmenbedingungen für die Austragung der Paralympischen Spiele deutlich verbessern, aber diese Verträge besiegeln auch eine Ausgrenzung der Paralympischen Spiele.

Die Spiele haben unterschiedliche Namen, die Spiele haben jeweils ein unterschiedliches Motto, ein unterschiedliches Logo. Man könnte überspitzt sagen, das Paralympische Komitee hat seine Seele verkauft. Das IOC hat dem Paralympischen Komitee Geld gegeben, damit sie endlich Ruhe geben mit den Forderungen nach Integration und hat sie so von den Spielen ferngehalten, von den Olympischen Spielen ferngehalten.

Meyer: Aber hat es nicht auch gute Gründe, dass man auch im Sinne der Fairness für beide Seiten die Paralympics und die Olympischen Spiele selbst voneinander trennt?

Schantz: Sicherlich, es ist sehr schwierig, Wettkämpfe zu organisieren, in denen beide, Behinderte und Nichtbehinderte, auf einer fairen Basis teilnehmen können. Aber ich denke, mit ein bisschen Fantasie und ein bisschen gutem Willen ist es durchaus möglich, auch Wettkämpfe zu integrieren, wo eben Behinderte und Nichtbehinderte miteinander oder gegeneinander kämpfen können.

Meyer: Gibt es dafür historische Beispiele?

Schantz: Es gibt ein historisches Beispiel, das sehr bezeichnend ist: 1904, während der Spiele in St. Louis, da hat ein Turner namens George Eiser mehrere Goldmedaillen gewonnen. Das Besondere bei ihm war, er hatte ein Holzbein. Da gab es zum Beispiel einen Wettkampf, Tauhangeln, man musste also ein sieben oder acht Meter hohes Seil hoch hangeln, nur mit den Armen. Und da er ein Holzbein hatte, hatte er natürlich da gewisse Vorteile, war dadurch leichter.

Es gibt auch Sportarten, wie zum Beispiel im Segeln, da gibt es eine Bootsklasse, ein kleines Kielboot, bei dem Behinderte zusammen mit oder gegen Nichtbehinderte segeln und dabei eben nicht die Beine brauchen. Es ist also auch möglich für Querschnittsgelähmte, diese Bootsklasse zu segeln, sie sind da wettbewerbsfähig gegen Nichtbehinderte.

Meyer: Können Sie sich denn auch weitere Sportklassen vorstellen, in denen das passieren könnte?

Schantz: Ich könnte mir vorstellen, dass man zum Beispiel das Bankdrücken einführt beim Gewichtheben. Bankdrücken, das heißt, dass eben die Athleten auf einer Bank liegen und das Gewicht ohne Hinzunahme der Beine hochdrücken. In den einzelnen Gewichtsklassen wären da vielleicht sogar auch die Behinderten bevorteilt. Der Sport bietet ja die Möglichkeiten, für verschiedene Körpermorphologien immer wieder Nischen zu finden. Der 2,20 Meter große Basketballer, der ist natürlich beim Basketballspiel bevorteilt, er kann praktisch den Ball in den Korb legen. Der kleine, unterdurchschnittlich Große findet im Turnen eine Nische. Und ähnlich könnte ich mir vorstellen, dass man das auch bei Olympischen Spielen macht, wo man eben auch paralympische Sportler miteinbeziehen könnte.

Meyer: Sie haben ja schon gesagt, die paralympische Bewegung hat sich gewissermaßen kaufen lassen, wenn man es so böse sagen will. Wie ist es denn bei den behinderten Sportlern selbst? Wie stark ist bei denen der Wunsch, tatsächlich in die Konkurrenz mit den nichtbehinderten Sportlern zu treten?

Schantz: Es gab ja jetzt wieder in Peking ein gutes Beispiel: Der südafrikanischen Schwimmerin Natalie du Toit ist es gelungen, obwohl sie beinamputiert ist, bei dem Schwimmen teilzunehmen. Sie wurde zwar nur Sechzehnte, aber ich denke, für sie ist es ein größerer Erfolg, als bei den Behinderten eine paralympische Medaille zu gewinnen.

Meyer: Deutschlandradio Kultur. Ich spreche mit dem Sportwissenschaftler Otto Schantz über die Frage: Was bringen die Paralympics für die Integration von Behinderten? Und gemeinsame Sportveranstaltungen von Behinderten und Nichtbehinderten, das ist die eine Frage, wenn man auf die Integrationsfähigkeit schaut. Aber die andere ist ja auch, wie werden die Paralympics wahrgenommen? Was bringt das für die öffentliche Wahrnehmung von Behinderten auch bei uns?

Und wenn man sich das mal anschaut, in diesem Jahr werden ARD und ZDF 100 Stunden lang live aus Peking berichten. Vor vier Jahren gab es nur zwölf Stunden Live-Bilder und wenn man weiter zurück geht in die Geschichte, da war der Fernsehanteil, der Anteil der Fernsehberichte geradezu verschwindend gering. Also, auf der Strecke hat sich auf jeden Fall etwas getan, was die öffentliche Wahrnehmung angeht, oder?

Schantz: Das Interesse der Medien ist sicherlich deutlich gestiegen. In Sydney waren etwa 2000 Medienvertreter, in Athen 3000, jetzt werden es wohl über 6000 sein. Die Frage ist aber, ob das Interesse der Öffentlichkeit im gleichen Maße gestiegen ist. Was das Medieninteresse angeht, muss man vorsichtig sein. In Deutschland sind wir da etwas verwöhnt. Wenn man mal nach Frankreich schaut, da werden jetzt die Spiele in Peking nur sieben Minuten täglich übertragen. Also statt 88 Stunden in Deutschland überträgt man da kaum 80 Minuten.

Meyer: 150 Nationen schicken Sportler zu den Paralympics. Kann man denn aus der Unterstützung eines Landes für den Behindertenspitzensport, kann man daraus Rückschlüsse ziehen auf die Situation der Behinderten überhaupt in diesem Land?

Schantz: Ich denke nicht, dass man das so pauschal sagen kann. Der Erfolg bei paralympischen Spielen hängt von verschiedenen Faktoren ab. Ganz wichtig ist da sicherlich der ökonomische Faktor. Behindertensport ist inzwischen sehr teuer. Denken Sie nur an die Prothesen, die Rollstühle. Ein Rollstuhl, der wettbewerbsfähig ist, der kostet inzwischen dann schon fast so viel wie ein Kleinwagen. Das Land muss also ökonomisch stark sein. Natürlich brauchen die Behinderten in diesem Land, das erfolgreich sein will, gewisse Rechte.

Zum anderen braucht man auch ein gewisses Talentreservoir und das hat zum Beispiel China, obwohl die Rechte der Behinderten dort nicht so ideal sind. Da hat sich zwar in der letzten Zeit einiges geändert, aber sie haben ein riesiges Talentreservoir, etwa 80 Millionen Behinderte gibt es dort. Die werden deshalb auch sicherlich viele Medaillen erringen. Eine ganz gute Position hat auch die USA. Die haben bisher seit 1960 die meisten Medaillen bei den Paralympischen Spielen errungen. Dort gibt es natürlich behindertenfreundliche Gesetze, es gibt auch das entsprechende Geld, um den Behindertensport zu fördern und auch das entsprechende Talentreservoir. Wenn man jetzt sarkastisch sein möchte, könnte man auch sagen, das Talentreservoir wird auch gefüllt dadurch, dass eben die USA an mehreren Fronten Kriege führen.

Meyer: Wie ist denn die Ausstrahlung dieser Spitzenleistung von behinderten Sportlern, die man jetzt bei den Paralympics sehen wird, auf den Behinderten-Breitensport. Gibt es da eine wichtige Vorbildwirkung?

Schantz: Also, ich denke, dass die Paralympischen Spiele sicherlich Modellcharakter haben und motivierend sind für Behinderte. Aber der Alltag von vielen Behinderten sieht anders aus. Viele Behinderte sind so schwer behindert, dass es für sie nur schwierig ist, Sport zu treiben und vor allem auch Hochleistungssport zu betreiben. Aber insgesamt ist es sicherlich motivierend und zeigt, dass man auch als Behinderter etwas erreichen kann.

Meyer: Morgen beginnen die Paralympics in Peking. Darüber habe ich mit dem Sportwissenschaftler Otto Schantz gesprochen. Er ist Mitherausgeber des Buches "The Paralympic Games: Empowerment or Sideshow?", erschienen im Meyer & Meyer Sportverlag. Das Buch kostet 24,95 Euro. Otto Schantz, vielen Dank für dieses Gespräch.

Schantz: Ich danke Ihnen.