Das Ost-West-Denken

Wie Medien und Politik Deutschland weiter teilen

08:47 Minuten
Ein Fernsehreporter berichtet am Brandenburger Tor über den Fall der Mauer.
Ein TV-Reporter berichtet vom Mauerfall: Auch 30 Jahre später bestimmen Ost und West noch immer den Deutungsrahmen. © imageBROKER
Von Thilo Schmidt · 04.11.2019
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Ostbeauftragter, Ostwahlen, Ostarbeitslosigkeit: 30 Jahre nach dem Mauerfall lebt die deutsche Teilung in vielen Köpfen fort. Auch weil Politik und Medien immer noch gesondert auf sechs Bundesländer in Nord-, Mittel- und Ostdeutschland blicken.
"Die ostdeutschen Länder sind ohne Transfers aus dem Westen nicht überlebensfähig."
"Wir müssen ja immer noch anerkennen, dass im Osten Deutschlands bis zu 80 Prozent der Menschen demokratische Parteien wählen."
"Ticken die Ostdeutschen da tatsächlich anders?"
In der Medienberichterstattung sind Ost und West immer noch unsere Deutungsrahmen, um regionale Unterschiede in Deutschland zu erklären. Das transportiert stets ähnliche Botschaften, auch wenn die Realität komplexer geworden ist: In Nordrhein-Westfalen ist die Arbeitslosigkeit höher als in Thüringen, in Baden-Württemberg erreichte die AfD schon vor drei Jahren 15 Prozent. Und in Dortmund sitzen seit Jahren Neonazis im Stadtparlament und Greifswald hat einen grünen Oberbürgermeister.
"Eigentlich spielt für mich diese Ost-West-Problematik keine Rolle mehr. Ich hab das zwar immer im Blick", sagt der Medienjournalist Jörg Wagner, geboren zwei Jahre vor dem Mauerbau, in Ostberlin - mit Fernblick nach Westen. Seit Jahren moderiert er das Medienmagazin im RBB-Sender Radio Eins.

"Ostdeutsche Wahlen" sind keine normalen Wahlen

"Das ist so Intuition", sagt Jörg Wagner. "Wenn ich das Gefühl habe, jetzt ist zu viel West-Interpretation in meiner Sendung, dann setze ich eine Ost-Interpretation dagegen. Aber das ist jetzt nicht statistisch nachgewiesen, sondern das ist mehr so ein Gefühl."
Das heißt aber auch, dass es sie noch gibt, Ost- und Westinterpretationen in unseren Medien – 30 Jahre nach dem Mauerfall.
"Ich glaube, dass sich das langsam aufzulösen scheint, aber dennoch ist es richtig, in der Tendenz wird immer noch gesagt: Ostdeutsche Wahlen, und wenn in Rheinland-Pfalz gewählt wird, sind das eben ganz normale Landtagswahlen."
Thüringen, Neudietendorf: Die Ministerpräsidenten der ostdeutschen Bundesländer, Michael Kretschmer (CDU, Sachsen), Reiner Haseloff (CDU, Sachsen-Anhalt), Dietmar Woidke (SPD, Brandenburg), Manuela Schwesig (SPD, Mecklenburg-Vorpommern, und Bodo Ramelow (Die Linke, Thüringen) sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Michael Müller (SPD, 2.v.r) Regierender Bürgermeister von Berlin, und Christian Hirte (CDU, r), Ostbeauftragter der Bundesregierung, treffen zu Beratungen zusammen.
Die "Ost-Ministerpräsidentenkonferenz" im April in Thüringen - der gesonderte Blick auf die sechs Bundesländer erhält die Teilung in den Köpfen am Leben.© dpa / ZB / Martin Schutt
Die Politik differenziert gerne zwischen Ost und West. Arbeitslosenzahlen, Existenzgründungen, Schulnoten, Löhne. Die Medien drucken es gerne ab. Wäre ein Bundesländer-Ranking sinnvoller? Vielleicht. Allerdings stünden dabei die fünf neuen Länder oftmals ganz oben. Oder ganz unten. Also doch gleich Ost und West vergleichen?
"Der Kontrast Ost und West ist nur eine Hilfskonstruktion, nach meiner Meinung", sagt Jörg Wagner. "Natürlich gibt es in der Bundesrepublik 'alt' ebenso verrottete Städte, gerade auch im Ruhrgebiet, das wird auch immer wieder so problematisiert. Allerdings neigen Medien dazu, in der Tat, zu vereinfachen. Der 'Spiegel' sitzt in Hamburg und denkt aus Hamburg, und das ZDF sitzt in Mainz und denkt aus Mainz, hat zwar Regionalstudios, aber gerade die Landesrundfunkanstalten der ARD sind dann viel dichter dran an der Realität. Und da gibt es dann dieses Phänomen des Mitteldeutsche Rundfunks, der immer noch als sehr 'ostig' empfunden wird."
Vielleicht, weil der Osten sein eigenes Sprachrohr haben will, als Reaktion auf eine tatsächliche oder vermeintliche Westinterpretation der Ereignisse? Der Journalist Hajo Schumacher vor einigen Tagen in einer ARD-Talkshow über Journalismus Anfang der 90er:
"Als ich zum Beispiel angefangen habe im Sportressort des 'Spiegel' 1990 bin ich rübergeschickt worden. Das war immer noch so ein bisschen Tropenhelm auf und Machete. Und es gab genau zwei Sorten von Geschichten, die bei den westlichen Blättern viel Anklang fanden, das war entweder eine Doping-Geschichte aus dem Sport oder eine Stasi-Geschichte. Idealerweise in der Kombination."
Ein bisschen "unreflektiert", räumt Schumacher ein, haben die jungen Journalisten seinerzeit dieses Ostbild transportiert.

Martina Renner: Niemals auf "Wessi" reduziert

Auch Politiker transportieren in ihren Reden Bilder, manchmal West-, häufiger Ostbilder:
"Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass gleicher Lohn in gleicher Arbeitszeit ist - Ost und West."
"Es gibt einen Ostbeauftragten. Oh, ganz schlimm. Der heißt auch noch Hirte. Ja, auch meine Partei hat einen, ich kenn ihn, ich bin mit ihm befreundet, und der weiß, was ich davon halte."
"Wo im Westen der Sportverein von fünf Unternehmen gesponsert wird, ist im Osten höchstens noch die Sparkasse da, die was dazugeben kann."
Für Politiker sind Ost und West oft feste Kategorien. Unauflöslich? Martina Renner kennt beide Perspektiven: In Mainz geboren, in Bremen gelebt, nach Thüringen gezogen 2002, saß dort für die Linke fünf Jahre im Landtag.
Inzwischen ist sie stellvertretende Parteivorsitzende der Linken, Mitglied im Bundestag – für den Wahlkreis "Erfurt – Weimar – Weimarer Land": "Irgendwann stehe ich in Erfurt am Infostand, und dann kommt die vormalige Ministerpräsidentin, Christine Lieberknecht, vorbei. Und, wie gesagt, ich war ja im Landtag, ich war stellvertretende Fraktionsvorsitzende, man kennt sich, man begrüßt sich, und sie sagt: 'Frau Renner, ich hab jetzt erst in einem Porträt über Sie gelesen: Sie kommen ja aus dem Westen! Das war mir gar nicht klar.' Das heißt, in der politischen Debatte hat man mich niemals jemand auf 'Wessi' reduziert."
Martina Renner, Mitglied im Innenausschuss des Deutschen Bundestags, sitzt in ihrem Büro.
Martina Renner sitzt für Die Linke und ihren Wahlkreis in Thüringen im Deutschen Bundestag.© imago/Ipon
Das gilt sicher auch für Bodo Ramelow. 1990 kommt der Gewerkschafter aus Hessen nach Thüringen. Begleitet die Kali-Kumpel in Bischofferode bei Arbeitskampf und Hungerstreik. Dass er aus dem Westen kommt, spielt heute fast keine Rolle.
"Indem wie er für Ost-Interessen ficht und auch gerade diese Biografien in der Wendezeit und danach wirklich zum Thema gemacht hat, so glaubwürdig, niemand hält ihm mehr ernsthaft vor, außer den Spinnern von der AfD, dass er nun nicht in Erfurt oder Weimar geboren ist."
Die Westdeutsche Martina Renner macht Politik für Die Linke. Eine Partei, die zwar im Westen angekommen ist, aber immer noch mindestens überwiegend eine Ost-Partei ist. Sie holt Stimmen, in dem sie immer wieder die Unterschiede betont - zwischen den ostdeutschen Bundesländern in Nord-Ost-Mitteldeutschland und dem Rest der Republik.
"Sie haben drei bis sechs Euro weniger Brutto als vergleichbar im Westen, es gibt viel mehr prekäre Beschäftigung. Wenn man aufs Jahr schaut, die Menschen arbeiten länger für weniger Geld. Und das zweite Thema, und das ist tatsächlich auch wichtig, es wird ja manchmal belächelt: Dieses Gefühl, in den Führungsetagen, sei es in den Universitäten, in den Ministerien, in den Medien nicht vorzukommen – das ist auch real. Das sind reale Benachteiligungen."

Ost-West-Sicht der älteren Generation bleibt

Reale Benachteiligungen für "die Ossis". Dieses Gefühl schwingt immer mit bei allen Ungleichheiten, die Martina Renner aufzählt. Der Geburtsort eines Menschen sagt zwar nicht aus, wie gut oder schlecht jemand seine Arbeit macht - aber darum geht es auch nicht. Es geht um die Gruppenzugehörigkeit, die auch 2019 weiterlebt
Aber Unterschiede in Deutschland lassen sich nicht auf Ost-West reduzieren, sagt auch Martina Renner:
"Da ist natürlich vollkommen klar, dass die Situation in Stuttgart eine andere ist als in Ostwestfalen. Das sehen wir auch. Aber man muss schon auch zugestehen, dass die Chancen auf eine sichere Beschäftigung mit auskömmlichen Einkommen, mit, ich sag mal so, geregelten Arbeitsbedingungen, also nicht permanenter Druck, Ausbeutung, weiterhin ein Grund sind, die Region zu verlassen."
Braucht es in Deutschland also einen Abwanderungs- statt Ostbeauftragten? Mit gezielter Förderung von Regionen in ganz Deutschland?
So einfach sei das nicht, meint Medienjournalist Jörg Wagner. Die Ost-West-Sicht wird vielleicht schwächer, aber sie wird noch lange bestehen: "30 Jahre nach dem sogenannten Mauerfall gibt es regionale Unterschiede zwischen Ost und West, ich meine 30 Jahre DDR kann man nicht so einfach abschütteln, auch wenn die Generationen so langsam aussterben, aber die Kinder und Kindeskinder leben ja in einem kulturellen Umfeld, das sich ständig reproduziert. Und daher denke ich, dass man auf diese regionalen Unterschiede genauso Rücksicht nehmen sollte wie auf bayerische und norddeutsche Befindlichkeiten. Allerdings in der politischen Auseinandersetzung wird das eben sehr gerne auf Ost und West reduziert."
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