Das neue Deutschland?

Von Michael Frantzen · 09.11.2006
Berlin, Franz-Mehring-Platz, Nähe Ostbahnhof: Ein Gebäude mit den riesigen Leuchtbuchstaben "Neues Deutschland". Das Haus ist Treffpunkt ganz verschiedener Leute: Künstler, Filmemacher, Vereine, Unternehmensberater, die Macher der Zeitung "Neues Deutschland". Sie kommen aus Ost- und West-Berlin, sind in der DDR groß geworden oder in der Bundesrepublik.
Neues Deutschland Haus: Zweite Etage.

Oertel: "Das ist unser Sitzungszimmer. Außerhalb der Großraumgemächer. Wo die Morgen- und die Abendsitzung stattfinden. Und das ist das ehemalige Dienstzimmer von Günter Schabowski. Ein Witzbold hat ‚Ort der Visionen’ dran geschrieben."

Soll noch einer sagen, die vom "Neuen Deutschland" hätten keine Humor. Wieder ein Vorurteil aus dem Weg geräumt: Gabriele Oertel, stellvertretende Chefredakteurin beim ND, schaut zufrieden. Tut sie gerne: Mit Vorurteilen aufräumen. Wusch!

Die Frau mit dem grauen Bürstenhaarschnitt gehört zum Urgestein Deutschlands einziger sozialistischer Tageszeitung. Über zwanzig Jahren ist sie der Zeitung jetzt schon treu: Lokalredaktion Erfurt in den 80ern, in der Wendezeit Korrespondentin in der Bundesrepublik, zuletzt Ressortleiterin Inland.

Eine ND-Karriere. Das Problem ist nur: Während Oertel aufgestiegen ist und den Sprung schaffte von der linientreuen DDR-Journalistin zur, wie sie sagt, "kritischen Beobachterin des wiedervereinigten Deutschlands", ging es mit dem "Neuen Deutschland" bergab, sank die Auflage auf 50.000 Exemplare - Tendenz weiter fallend.

Das "Neue Deutschland" sieht alt aus. Über sechzig ist der Durchschnittsleser. Kaum Junge. Nicht gerade rosige Aussichten, doch Gabriele Oertel läßt sich dadurch nicht entmutigen. Ist sie ihren Lesern schuldig.

"Wir sind ne sozialistische Zeitung. Das is, glaub ich, och heraus zu lesen. Und es gibt ne ganze Reihe von Leuten, die sich daran festhalten. An der Idee. Und akribisch verfolgen, was aus der Idee wird. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die warten früh, dass die Zeitung im Kasten ist. Und die lesen die vor allem von Anfang bis Ende. Bisweilen ist es mir peinlich, dass mich jemand am Vormittag noch was fragt - das hab ich noch gar nicht gelesen. Und das ist für sie nen Stück Identität. Das brauchen sie. Ich kenne einen, der ND austrägt, der ist manchmal nen bißchen genervt: Zwei, drei Leute stehen um halb sieben auf der Straße und fragen ihn, warum er heute so spät kommt oder so."

Zwei Bürozimmer weiter brütet Jürgen Reens über den Kommentar, den er noch zum KSK-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan schreiben soll. Reens ist seit April 99 Chefredakteur vom ND, vorher war er Pressesprecher bei Gregor Gysi.

Reens ist Wessi. Sass für die Grünen in den 80ern im Bundestag, bis er der Rotation zum Opfer fiel und nach der Wende bei der PDS eine neue Heimat fand.

Reens und Oertel können gut miteinander. Heißt es im ND. Der Wessi-Mann und die Ossi-Frau: Neues Deutschland so zu sagen. Beide haben sich auch zusammen dafür stark gemacht, dass die Zeitung letztes Jahr wieder an ihren Stammsitz am Franz-Mehring-Platz zurückkehren konnte. Raus aus dem Exil in Alt-Stralau, wo das ND wegen eines Rechtsstreits mit der Bahn zehn Jahre Unterschlupf gefunden hatte.

Reens: "Dieses Haus ist eben ursprünglich für diese Zeitung gebaut worden. Wir brauchen jetzt nicht mehr das gesamte Haus, wir sind auf einer Etage hier. Aber: Es ist der Stammsitz dieser Zeitung und das ist, glaube ich, auch für diese Zeitung ... es hat dort eine Symbolkraft. Für die Atmosphäre der Zeitung selbst, ist es von Bedeutung. Dass sie in ihrem ursprünglichem Haus, in ihrem ursprünglichem Stammsatz, zurückkehren konnte; dass sie letztlich nicht als Verlierer dort hinaus gedrängt wurde."

Neues Deutschland Haus. Sechste Etage.

Nicht zu den Verlieren gehören, sich nicht heraus drängen lassen: Paßt auch ganz gut zu Heinz Koppi, dem Vorsitzenden der Berliner Landesvereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Man könnte auch sagen: Koppi ist ein Kämpfer. Für die Belange seiner Mitglieder; dafür, dass noch genügend Zeitzeugen in die Schulen gehen, um über die Nazizeit zu berichten; für das Andenken seiner Eltern. Er hat sie nie kennen gelernt: Beide wurden kurz nach seiner Geburt 1942 von den Nazis hingerichtet. Waren Widerstandskämpfer! Mitglieder der Roten Kapelle.

Schon Ende der 80er, noch zu DDR-Zeiten, fing Koppi, der Außenhandelsökonom, an, sich in die Akten zu wühlen und Zeitzeugen ausfindig zu machen, um mehr herauszufinden über die Zeit damals. Und seine Eltern.

"Im Westen waren’s die dilletantischen Abenteurer, die sich da eben als bezahlten Agenten Moskaus in dieser Zeit zu Aktionen hinreißen lassen. Von denen se eigentlich hätten wissen müssen, dass das alles keinen Sinn hat. Und sie damit eigentlich auch dem Namen Deutschlands geschadet haben. Und in der DDR waren’s eben die Helden des antifaschistischen Widerstandes, die mit der Sowjetunion dann dort zusammen gearbeitet haben. Und in diesen pauschalen Urteilen paßte das alles nicht zusammen. Viele wußten auch gar nichts von diesen Kontakten nach Moskau. Und es war eine sehr breit gefächerte, weltanschaulich unterschiedliche Widerstandsgruppierung. Und das fand ich doch auch interessant: Wie mein Vater ein Arbeiter war. Als Dreher. Wie der mit dem Schulze-Boysen, ein Mann des Widerstandes, der im Luftfahrtministerium als Offizier gearbeitet hat, wie die dann 1940/41 zusammen kamen."

Neues Deutschland Haus. Sechste Etage.

Chalabi: "So! Betrifft: Von F M Platz. Nach Stralauer, nä?!"Können se auch Universal hinschreiben.""Universal ...""

Auftritt:

"Málika Chalabi."

Betreibt:

"Chalabi-Film."

Produziert:

"Beiträge von Stars und Sternchen - alles, was mit Kultur, Musik, Oper, Film zu tun hat. Und ich fühl mich da den Leuten nahe. Ich spreche gerne mit diesen Menschen und sie sprechen gerne mit mir. Aber ich mache es natürlich ... es sind ganz knallharte wirtschaftliche Interessen dahinter, nämlich: Das sind die Sachen, die sich sehr gut verkaufen lassen."

Wie zum Beispiel die Homestory über den Rocksänger Paul Young, der auf seine alten Tage eine angejazzte CD mit Coverversionen seiner Lieblingslieder herausgebracht hat.

Málika Chalabi also. Die Deutsch-Algerierin dürfte eigentlich der Traum all jener neoliberalen Politikers sein, die uns ständig predigen: Leute, ihr müßt jetzt aber mal bitte schön selbständig sein! Und mobil! Und flexibel!

Chalabi ist das … immer schon gewesen. Chalabi ist das neue Deutschland. Hat Abitur in Kopenhagen gemacht, weil ihr in ihrem Heimatkaff am Bodensee die Decke auf den Kopf fiel und sie die dänischen Frauen so selbstbewußt fand; hat ein halbes Jahr in Ägypten gelebt; in Westberlin dann als Tänzerin und Choreographin gearbeitet - bis sie das Angebot bekam, Alan Delon zu interviewen. Jetzt macht sie also in Journalismus. Freiberuflich zwar, aber - ganz zeitgemäß - gut vernetzt.

"Dass ich hierher gekommen bin, in dieses Haus, hat damit zu tun, nach nem Wunsch nach Vernetzung. Weil ich weiß, dass hier eben viele kulturell oder auch künstlerisch oder kreativ tätige Leute ihre Büros haben. Wenn ich jemand brauch, der mir ne Grafik machen soll, geh ich einfach ne Etage höher. Oder wenn ich jemand brauch, der mir computertechnisch auf die Sprünge hilft, dann geh ich ne Etage runter. Und das genieß ich sehr an diesem Haus. Also, das find ich ganz toll. Ich halte das für absolut typisch für Berlin. Also, das hab ich anders noch nie erlebt."

Neues Deutschland Haus: Sechste Etage.

"Mein Name ist Angelika Suhr, ich habe eine Casting-Agentur. Ich habe mich spezialisiert auf Leute ab 35 und aufwärts. Diese Strecke geht irgendwie etwas unter. Es gibt sehr, sehr viel Agenturen, die wirklich sehr junge Leute haben: hübsche, junge Leute. Aber ich sag einfach: Bei mir beginnt die Ausstrahlung ab 30. Die Leute haben Erfahrungen, ihre Augen strahlen, sie sind sehr offen."

Andere sind das nicht. Filmproduktionsfirmen, die abwinken, wenn sie hören, dass Suhr nur Schauspieler ab 35 in der Kartei hat, die keine perfekten Schönheiten sind. Was sollen wir schon mit Leuten mit Konfektionsgröße XXL?, heißt es dann.

Ein hartes Business. Doch so schnell gibt Angelika Suhr nicht klein bei. Mit 52 kann doch nicht Schluß sein! Macht sich und ihren Klienten Mut. Sitzt lächelnd in ihrem 18-Quadratmeter-Büro, das aussieht wie die Kulisse eines boulevardesken Bühnenstückes. Und versucht partout, das Gute zu sehen.

Casting bei Suhr

"So. Wir stellen immer erst die Rollen vor. Wie wir se auch spielen wollen."

Eigentlich müßte sich Angelika Suhr das hier gar nicht antun: Das Casting jetzt. Eigentlich würde es auch reichen, wenn sich die Leute bei ihr online anmelden und dann zum Gespräch vorbei schauen würden. Aber: Sind ja Schauspieler, da will sie wissen, was die so drauf haben, wie sie ticken; das Persönliche halt.

Angelika Suhr ist das immer schon wichtig gewesen. Auch im Job. Die 52-jährige hat schon einiges gemacht: Retuscheurin in einer Ostberliner Druckerei war sie, beim Rat der Stadt und im Wohnungsamt.

"In der Wende war ich bei Möbel Höffner. Achteinhalb Jahre, dann: Telefonistin. Ich sag mal: Man hat Arbeit gesucht. Und gefunden. Das Arbeitsklima war natürlich ganz anders, weil: Wir haben früher miteinander gearbeitet, hier wurde viel gegeneinander gearbeitet. Ich habe sehr viel Schwierigkeiten gehabt bei Möbel …, also bei dieser Firma. Durch Mobbing. Habe es geschafft, mich raus zu wurschteln. Dass man wieder sagt: OK, das war’s, jetzt muß was neues beginnen und du machst es ganz anders."

Anders machen will es auch Heinz Koppi. Anders als das "offizielle" Deutschland. Gibt da ein paar Sachen, über die er sich richtig aufregen kann. Der 20. Juli zum Beispiel. Stauffenberg und Co. Ein ehrenwerter Widerstand - sicher, aber wie ihr Andenken stilisiert worden sei - als "Beginn, Höhepunkt und Niederlage des deutschen Widerstands in einem" - stört ihn gewaltig. Genau wie die Tatsache, dass bei Erinnerungsveranstaltungen der 30.000 Wehrmachtsdeserteure fast nie gedacht wird.

"Nun hatten die keine Zukunftsvision, die wollten ihr Leben retten. Aber wenn das noch ein paar Hunderttausend mehr gemacht hätten, dann wäre das eine echte Alternative geworden. Und hätte uns und den Deutschen, aber auch den überfallenen Völkern, viel erspart. Nur diese Frage der Desertation wird natürlich auch immer vor den aktuellen politischen Konstellationen mit gesehen. Und wer heutzutage Deutschland am Hindukusch und weiß ich wo alles verteidigen will, der hat offensichtlich keine große Neigung, die Deserteure zu ehren."

Bundeswehreinsätze im Kongo; die KSK in Afghanistan; die deutsche Marine vor der libanesischen Küste - wenn es nach Heinz Koppi ginge, wäre damit Schluß. Je schneller, desto besser.

Jürgen Reens sieht das genauso. Ist das jetzt sozialistisch? Oder pazifistisch? Oder einfach nur unzeitgemäß? Der Chefredakteur des ND lächelt milde. Wenn das das neue Deutschland sein soll - Auslandseinsätze der Bundeswehr -, dann lieber Opposition! Da sind sie sich im Blatt alle einig. Egal, ob jung oder alt, PDS-nah oder unabhängig, Wessi oder Ossi.

Wobei das mit dem Wessi-Ossi so und so in der Redaktion kaum noch eine Rolle spiele, meint der Mann aus dem Westen, der einst mit Joschka Fischer an der grünen Außenpolitik bastelte. Anfangs, 99, in den ersten Wochen beim Neuen Deutschland, war er da noch skeptischer.

"Komm ich damit klar? Es gibt unterschiedliche Mentalitäten. Kommen die Kolleginnen und Kollegen mit mir klar? Reibt sich da zuviel aneinander? Im Großen und Ganzen spielt es keine bedeutsame Rolle mehr. Hier in der Redaktion. Auch wenn wir neue Kollegen einstellen, Volontäre zum Beispiel. Dann ist die Frage, ob jemand aus dem Westen Deutschlands kommt oder aus dem Osten Deutschlands kommt, nicht mehr von so herausragender Bedeutung."

Noch mal ein Stockwerk tiefer - zu Málika Chalabi. Draußen dominiert das Grau-Weiß der endlosen Gänge: Im Büro der Filmemacherin aber strahlt die Wand in Hellrosa, sind auf dem Teppich rote Farbkleckse verteilt.

Málika Chalabi mag das: Kontraste. Deshalb mag sie das Haus auch so. Dass ganz verschiedene Leute eine Bleibe gefunden haben, die alle versuchen, aus dem Leben in dieser Stadt etwas zu machen. Gemeinsam unter einem Dach. Auf dem in roten Lettern "Neues Deutschland" prangt.

"Wenn da Neues Deutschland drüber steht ... ich verbinde damit nichts. Auch nichts Negatives. Aber: Wenn ich Kunden oder Leute hierher bestelle, die aus dem Osten sind, die trifft das wie ein Schlag in die Magengrube. Die wollen hier erst mal gar nicht hin einlaufen. Beziehungsweise allein die Gänge verbreitet für die so`n Unwohlsein. Und dann am Anfang noch die Gerüche! Die fanden das entsetzlich! Und konnten überhaupt nicht begreifen, dass man Lust hat, in so`nem Gebäude einzuziehen."

Bis sie ihnen von ihrem Netzwerk erzählt; vom Email-Verteiler im Haus, wo man erfährt, wer jetzt gerade an welchem Projekt arbeitet und Hilfe gebrauchen könnte; und den engagierten Leuten hier.

Jungen, Alten, großen und kleinen Fischen, Wessis und Ossis.