Das Netz unter dem Balkon

26.05.2011
Mit ihren 31 Erzählungen erweist sich Kathrin Schmidt erneut als glänzende Geschichtenerfinderin. Es gelingt ihr überzeugend, die tragischen und oft auch die tragisch-komischen Momente in den Biografien ihrer Figuren aufzuspüren.
Während eines abendlichen Spaziergangs kommt es Irene Mattasch so vor – sie ist eine der beiden zentralen Figuren in Kathrins Schmidts Erzählung "Zwischen Kimme und Korn" –, als würden die Menschen ein feines Netz aus Fäden knüpfen, wenn sie sich in der Stadt bewegen. Dort, wo sich ihre Wege kreuzen, bilden sich Knoten. Die Jüngeren scheinen dieses Netz kaum zu bemerken, vom dem die Älteren in ihren Bewegungen leicht gebremst werden. Als sie nach der Rückkehr von diesem Stadtausflug ihrem Mann von dieser Beobachtung erzählen will, verblüfft er sie mit der Feststellung, dass er ein solches Netz schon lange sieht. Fast einladend schwebt es unter seinem Balkon, wenn er sich über die Brüstung beugt, die er aber nicht übersteigen kann, weil er in einem Rollstuhl sitzt. Seit Arnulfs Unfall ist ihr gemeinsames Leben zweigeteilt. Beide sind einander zugeneigt, aber sie sehen die eine Welt aus ganz verschiedenen Perspektiven.

Kathrin Schmidt erweist sich in ihrem neuen Erzählungsband "Finito. Schwamm drüber." erneut als glänzende Geschichtenerfinderin. In den 31 Erzählungen, die in den letzten 15 Jahren entstanden sind, gelingt es ihr ungemein überzeugend, die tragischen und oft auch die tragisch-komischen Momente in den Biografien ihrer Figuren aufzuspüren. Fast könnte man sie mit Reni Pizolla vergleichen, die sich in der Erzählung "Ein Tag, ein Knopf" die Tage vornimmt und sie dann aufknöpft, um herauszufinden, worin sie sich voneinander unterscheiden und was ihre Besonderheit ausmacht.

So ließe sich auch das poetische Verfahren beschreiben, das Kathrin Schmidt in ihren Geschichten anwendet, wobei sie besonders jene Momente interessieren, in denen sich Veränderungen in den Biografien abzeichnen: Irene Mattasch wird sich nicht länger von den Tagen antreiben lassen, sondern versuchen, ihnen auch eine von ihr vorgezeichnete Richtung zu geben. Und Reni Pizolla zählt am Schluss nicht mehr die Tage, die alle irgendwie gleich langweilig waren, sondern sie hält einen für sich fest und unterbricht so die Wiederkehr des ewig Gleichen.

Thematisch wird in den Texten ein weiter Bogen gespannt, der von der Liebe über das Erinnern und das Essen bis hin zum Tod reicht. Dabei geht die Autorin durchaus erzählerische Wagnisse ein, wenn sie beispielsweise in der Geschichte "Norwegische Formel" die fast ausweglos erscheinende Situation einer Mutter beschreibt, die ihr Kind innig liebt und es doch am "liebsten" los wäre. Ganze vier Seiten genügen Kathrin Schmidt, um ein erschütterndes Psychogramm zu entwerfen.

Kathrin Schmidt beweist mit dem vorgelegten Erzählungsband, dass es manchmal durchaus etwas weniger sein darf. Denn die in ihrem Umfang so schmal bemessenen Texte erweisen sich als äußerst gehaltvoll, so dass nach der Lektüre der Erzählungen der Eindruck bleibt, man hätte mehrere Romane gelesen.

Besprochen von Michael Opitz

Kathrin Schmidt: Finito. Schwamm drüber. Erzählungen
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011
238 Seiten, 17,95 Euro
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