Das musikalische Erzählen von Märchen

In dieser Kälte

55:08 Minuten
Eine Frau und ein Mädchen in weißen langen Kleidern stehen angestrahlt auf sonst dunkler Bühne und heben die Arme.
"Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" von Helmut Lachenmann im Rahmen der Ruhrtriennale 2013. © picture alliance / dpa / Caroline Seidel
Von Peter Knopp · 22.01.2021
Es gibt Märchen, die einem seit der Kindheit vertraut sind und in späteren Jahren Unbehagen auslösen. Komponisten des 20. Jahrhunderts von Zemlinsky bis Lachenmann haben für die in solchen Märchen aufbewahrten Traumata besondere Ausdrucksmittel entwickelt.
Märchen nahmen ihre Stoffe seit jeher ganz aus der Wirklichkeit und verwandeln sie in seltsame Geschichten. Das dunkle Repertoire, das zu den "Es war einmal"-Märchen gehört, ist umfangreich.

Blick in die gegenwärtige Vergangenheit

In seiner bedrückenden "gegenwärtigen Vergangenheit" vollziehen sich diese vielfältigen schwarzen Geschehnisse gewissermaßen alltäglich.Es waren und sind entsetzliche Begebenheiten, über die man nicht sprechen kann oder nicht sprechen will. Es sei denn, man wählt den Weg ins Märchen oder ins Kunstmärchen oder in eine raunende hermetische Dichtung.

Märchen als Musik

Manchmal aber wird eine Märchenerzählung mit einer Musik verschwistert und findet so ihre Gestalt als Oper, Ballett, als Orchester- oder Instrumentalfantasie. Humperdincks "Hänsel und Gretel", Zemlinskys "Kleine Seejungfrau", Strawinskys "Feuervogel", Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern" und Holligers "Schneewittchen" sind hier zu nennen.

Von der Kraft der Naivität

Es sind in den Märchen oftmals Kinder oder doch fast kindliche Geschöpfe, wie die kleine Seejungfrau, die mit großer anfänglicher Naivität unsere Welt betreten, und deren Wahrnehmung in dieser Welt ein Staunen und Verwundern ist. Manchmal ist eine solche Naivität sogar ein Lebensschutz, der den Sturz ins Verderben überraschend abwendet.
Hänsel und Gretel halten einander die Hand, während ihnen die Hexe samt Katze, Raben, Gehstock und krummen Buckel entgegentritt.
In diesem historischen Glanzbild ist die Hexe fast niedlich.© imago images / imagebroker
Eine aufgeweckte und pragmatische Naivität rettet Hänsel und Gretel das Leben. Eine passive Naivität kann zu einem fast beiläufigen und vermeintlich "glücklichen Tod" führen, wie bei dem Mädchen im tiefen Winter, das Schwefelhölzer verkaufen soll.
Wie kann sich Musik, will sie sich den Märchen nähern, zu ihnen verhalten und die nur scheinbar seltsamen Handlungen begleiten, um diese zu kommentieren oder in sie einzugreifen oder sie womöglich gar zu verklären?

Musikalische Märchen heute

Ein Komponist in unseren Tagen kann eine solche Erzählung nicht mehr in tradierter Weise und mit den vertrauten Mitteln begleiten. Glaubwürdigkeit könnte so nicht stattfinden. Musik als ein oft hilfreiches und uns stärkendes "Pfeifen im Walde" ist nicht mehr möglich.
Hier, in schwieriger Situation, setzt Helmut Lachenmann ein. In seiner Oper "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern", einem Werk, das 1997 seine erfolgreiche Uraufführung erlebte, hat Lachenmann sich sehr genau an Hans Christian Andersens Märchentext gehalten. Dennoch hat das Werk viele Hörer verstört. Vielleicht auch, weil es der Musik die Sprache verschlug bei der Annäherung an die alte Geschichte.

Stetige Präsenz von Gewalt

Die Gewalt durch Natur und Gesellschaft, die das Mädchen erfährt, verwundern uns eher nicht. In dieser Märchenfigur erkennen wir deutlich das "konkrete Allgemeine" wieder, eine Jedermanns-Konstellation, die mit dem verhüllten Realismus des Märchens uns vielleicht näher steht als Hofmannsthal mit dem "Tod des reichen Mannes".
Ereignisse von zerstörender Gewalt, die wir verallgemeinernd und meist mystifizierend "das Böse" nennen, sind im Märchen wie im Alltag der Menschen immer präsent.

Umpanzern und verwandeln

Der Kälte kann man ohne Verwandlung nicht standhalten. In Andersens Märchenrealität ist es eine Verwandlung zum Tode, die sich am Mädchen vollzieht. Wir anderen, wenn wir kalten Situationen ausgeliefert sind und noch einmal davonkommen wollen, müssen uns – vielleicht auch aus sorgenvollen und "unruhigen Träumen erwachend" – umpanzern. Umpanzern wie ein Käfer und mit dieser "Verwandlung" zurechtkommen.
Mit Ausschnitten aus folgenden Märchen-Vertonungen:
Alexander von Zemlinsky:
Die Seejungfrau. Fantasie in drei Teilen für großes Orchester
Igor Strawinsky:
Der Feuervogel. Ballett nach russischen Märchen von Michael Fokin
Helmut Lachenmann:
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Musik mit Bildern nach Texten von Hans Christian Andersen, Gudrun Ensslin und Leonardo da Vinci
Enbelbert Humperdinck:
Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern
Heinz Holliger:
Schneewittchen. Oper in fünf Szenen und einem Prolog
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