Das mögliche Ende von Japans alten Eliten

Reinhard Zöllner im Gespräch mit Frank Meyer · 29.03.2011
Der Japanologe Reinhard Zöllner erwartet für die Zeit nach der unmittelbaren Krisenbewältigung in Japan eine stärkere politische Beteiligung der japanischen Bevölkerung.
Frank Meyer: Gestern hat die japanische Regierung zum ersten Mal eingeräumt, dass es eine Kernschmelze in Fukushima gegeben hat, wahrscheinlich schon kurz nach dem Erdbeben am 11. März. Nach einer Umfrage vom Wochenende sind die Japaner unzufrieden mit den Informationen ihrer Regierung über die Atomkrise. Etwa 60 Prozent der Japaner sagen, sie werden von ihrer politischen Führung nicht ausreichend über die radioaktive Verseuchung und die Gefahren informiert.

Was könnten die Katastrophen in Japan für die politische Zukunft dieses Landes bedeuten? Das wollen wir besprechen mit Reinhard Zöllner, er ist der Leiter der Abteilung für Japanologie und Koreanistik an der Universität Bonn, und er ist gerade am Wochenende aus Japan, aus Tokio zurückgekehrt. Seien Sie willkommen bei uns!

Reinhard Zöllner: Danke schön!

Meyer: Schauen wir zunächst auf ihre eigenen Erfahrungen dort. Wie haben Sie das erlebt in Gesprächen in Japan, den Umgang der Regierung mit dieser Dreifach-Katastrophe?

Zöllner: Es gibt natürlich keine Vorlagen für solche Katastrophen und für die Informationspolitik, die dann einsetzen muss. Zunächst einmal hat die Regierung versucht, eine Panik in der Bevölkerung zu verhindern und möglichst eben die Informationen zu vermitteln, die für den Augenblick lebenswichtig erschienen. Heute ist angekündigt worden, dass man also in Kürze einen ausführlichen Notfallplan und auch mittelfristigen Plan veröffentlichen will. Die Verunsicherung ist deutlich gestiegen in der Bevölkerung, das kann man sagen.

Meyer: Und man hat ja auf der einen Seite die Lage, dass die Bevölkerung nach dieser Umfrage vom Wochenende unzufrieden ist mit der Informationspolitik in Bezug auf das Atomunglück. Auf der anderen Seite haben sich aber auch 60 Prozent der Japaner ganz zufrieden erklärt mit dem Umgang der Regierung wiederum mit der Erdbebenkatastrophe und der Versorgung der Opfer. Also es ist ein differenziertes Bild, auf das man da stößt, und zu dem Bild gehört auch, dass die Zustimmung für den Ministerpräsidenten, Naoto Kan, sogar gestiegen ist in dieser Krisenzeit: von 20 Prozent, das hatte er vor dieser Katastrophe, 28 Prozent jetzt. Das ist nicht sehr viel, aber immerhin etwas. Was halten die Japaner denn in dieser Situation ihrem Ministerpräsident zugute?

Zöllner: Der Ministerpräsident gehört zu den wenigen Politikern, die jetzt in der Regierung sitzen und nicht schon vorher dem politischen Establishment angehört haben. Inzwischen wird immer mehr bekannt, wie stark doch die politische Elite vor dieser Regierung verwickelt war in fahrlässige und durchaus auch falsche Einschätzungen der atomaren Sicherheit. Und das ist natürlich erschütternd, dass das jetzt Stück für Stück rauskommt. Davon ist Kan nicht betroffen, und das ist natürlich für die Menschen ein Grund, doch stärker an seine Glaubwürdigkeit zu halten.

Meyer: Japan hat ja einen gewaltigen politischen Umbruch erlebt vor eben anderthalb Jahren, die jahrzehntelange Herrschaft der liberaldemokratischen Partei LDP ist damals zu Ende gegangen, die demokratische Partei, eben heute geleitet von Naoto Kan, kam an die Macht, und Sie haben diesen Umbruch selbst in einem Artikel so beschrieben: Man sah nach dem Regierungswechsel junge Politiker, die an die Demontage des verkrusteten Staatsapparates gingen und versprachen, endlich die Herrschaft der Bürokraten zu brechen. Was meinen Sie damit genau, ein verkrusteter Staatsapparat in Japan?

Zöllner: Das riesige politische Problem in Japan ist, dass wir keine Parteien im Sinne von Programmparteien wie in Europa haben, sondern im Wesentlichen Wahlbündnisse, die die Interessen einzelner Politiker vertreten sollen. Deswegen sind diese Parteien auch nicht in der Lage, langfristige politische Strategien zu entwickeln und in eigener Verantwortung gegenüber der Bürokratie zu übernehmen. Das hat dazu geführt, dass die Bürokratie ein sehr starkes Eigenleben führt, das eben in der Lage ist, die Politik sozusagen durch die Hintertür zu prägen. Und dagegen wollte die neue Regierung angehen, indem sie gesagt hat, wir Politiker sind auch diejenigen, die die politische Führung übernehmen müssen. Das Problem ist nur, die Politiker, die das gesagt haben, hatten überhaupt keine Erfahrung im Umgang mit Bürokraten und auch keine hinreichend sicheren Pläne, wie es denn in Zukunft weitergehen soll.

Meyer: Und das heißt, sie haben sich erst mal festgerannt in der Bürokratie?

Zöllner: Einerseits ja, sie haben sehr viel auch symbolisch sozusagen den Beamten an Macht weggenommen, auf der anderen Seite hat es zu einer großen Verunsicherung geführt, wie es denn jetzt weitergehen soll. Und dann haben sie schlicht und einfach noch das riesige Problem der Staatsverschuldung, die in Japan extrem hoch ist und die einfach die Spielräume auch für aktive Politik eben doch sehr, sehr gering sein lässt.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, bei uns im Studio ist der Japanologe Reinhard Zöllner. Wir reden über einen möglichen Wandel in Japan. Was hat denn die demokratische Partei in Japan in diesen anderthalb Jahren, die sie jetzt an der Macht ist, was hat sie wirklich auf den Weg gebracht an Reformen, über diesen Versuch, die Macht der Bürokratie zu brechen, hinaus?

Zöllner: Es sind sehr viele Stiftungen und öffentliche Unternehmungen auf den Prüfstand gestellt worden, man hat also genau untersucht, wie geben die ihr Geld aus, wird das alles so verwendet, wie es im Haushalt vorgesehen ist und vor allem, wie es politisch sinnvoll ist. Also man hat sich schon bemüht, den Haushalt sozusagen auszumisten. Man hat gleichzeitig Maßnahmen ergriffen, um zum Beispiel Familienförderung betreiben zu können: Einführung des Kindergeldes ist angedacht oder auch eine Senkung der hohen Gebühren für Oberschulen. Das sind sehr schöne sozialpolitische Maßnahmen, nur hat man es auch mit einer destruktiven Opposition zu tun, die jetzt unglücklicherweise auch noch im Oberhaus, der zweiten Kammer des Parlaments, die Mehrheit hat und in der Lage ist, das Gesetzgebungsverfahren erheblich zu verlangsamen und sogar zu stoppen.

Meyer: Also eine sehr schwierige Lage. Wenn das jetzt zusammenkommt mit den Nachwirkungen der Katastrophe, die ja nach wie vor anhält, wie sehen Sie das: Sammelt sich da in der japanischen Bürgergesellschaft so etwas wie ein kritisches Potenzial allmählich? Wenn wir vielleicht erst mal auf den Teilbereich Energiepolitik schauen: Wir haben ja gesehen, es gab am Wochenende Demonstrationen, die etwas mehr Zulauf hatten als früher, was Proteste gegen die Atompolitik der Regierung angeht, von 1000 Teilnehmern war da die Rede – verglichen mit Maßstäben hier bei uns sehr wenig, aber für Japan zumindest mehr als vorher. Sammelt sich da etwas?

Zöllner: Ich glaube schon, dass man, wenn diese Krise zum größten Teil ausgestanden sein wird, wo es jetzt ja wirklich ums Überleben geht, dass man danach beginnen wird, auch vonseiten der Bürger eine stärkere Partizipation an der Zukunftsgestaltung Japans zu verlangen und nicht immer sozusagen alles abzuschieben auf die Lobbyisten und auf die Politiker, die nun, wie man sieht, auch nicht besonders fachlich beschlagen sind. Es besteht eine Chance, glaube ich, dass aus dieser Krise sich auf Bürgersinn gestützte Initiativen stärker an der Politik beteiligen und es durch die Erfahrungen, die man jetzt macht – gerade jetzt, wo in vielen Teilen des Krisengebietes ja auch die politische Führung ausgefallen ist, wo die Leute sich selbst organisieren müssen, wo sie lernen müssen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen –, dass daraus auch ein neues Selbstbewusstsein resultiert, das eben erkennt, ja, Politik ist unsere Sache. Bislang war die Politik sehr stark eben die Sache von Familien, deren Angehörige – Söhne, Enkel, Urenkel – eben drei, vier Generationen lang im Parlament gesessen haben an den Schalthebeln der politischen Macht.

Meyer: Schauen wir uns das noch etwas genauer an, konkreter, was Sie mit Wandel auch meinen, zum Beispiel im Blick auf die Regionen, die jetzt besonders betroffen sind im Nordosten des Landes: Wie könnten die sich weiterentwickeln Ihrer Ansicht nach?

Zöllner: Also schon seit Jahrzehnten wird diskutiert, dass die Regionen, die bislang als Präfekturen organisiert sind, an sich nicht wirtschaftlich tragfähig sind, das heißt, auch politisch eigentlich neu gestaltet werden müssen – dass man größere Einheiten schafft, dass man Einheiten schafft, die demografisch besser beschaffen sind. Die Gegend, die es jetzt getroffen hat, gehört zu den ärmsten in Japan, auch zu den am dünnsten besiedelten in Japan und hat einen enormen Verlust durch Weggang von jungen Leuten – junge Leute, die beispielsweise glauben, dass man in der Landwirtschaft keine Zukunft mehr hat, oder junge Leute, die einfach keine Arbeitsplätze in der Gegend selbst finden. Wir haben jetzt, heute die Zahlen erhalten, dass 25.000 Menschen allein in dieser Präfektur arbeitslos geworden sind durch diese Atomkatastrophe. Und um diese Region zu stärken, wiederaufzubauen, muss es zwangsläufig im politischen System Veränderungen geben, Neuzusammenschlüsse, möglicherweise die Bildung von dem, was schon lange diskutiert worden ist, etwas, was aussieht wie unsere Bundesländer, mit größerer Autonomie, mit größerer Verantwortung.

Meyer: Und wenn wir auf den Bereich der Sozialpolitik schauen – Sie haben schon gesagt, dass es eine andere Verteilung auch zwischen Jung und Alt geben müsste –, über welche Instrumente könnte das funktionieren, wie könnte das aussehen?

Zöllner: Die eine Idee, die eben schon angedacht war, aber bislang nicht verwirklicht worden war, ist die Einführung von Kindergeld, dann die Reform der Schulgebühren, der Finanzierung der Schulen, des gesamten sehr, sehr, sehr teuren Ausbildungssystems, das eben dazu geführt hat, dass sich die Menschen, die keine feste Arbeit haben in Japan, langfristig solche Bildungssysteme nicht leisten können. Das ist natürlich ein gesamtgesellschaftliches Problem. Und dann, wie gesagt, die große Frage, die Zukunft der Landwirtschaft in Japan. Gibt es die Möglichkeit, hier neue Ansätze, etwa ökologische Landwirtschaft, so attraktiv zu machen, dass junge Menschen sagen, ja, wir wollen jetzt nicht unbedingt alle in den Städten hocken, sondern sind bereit, auch in diese Regionen zu gehen.

Meyer: Und noch einmal zurück zur Energiepolitik, zur Atompolitik: Glauben Sie, dass Japan da einen Wandel hinbekommt in Richtung regenerativer Energien?

Zöllner: Langfristig wird das so sein müssen, kurzfristig ist es nicht möglich, weil 40 Prozent des japanischen Stroms durch Atomstrom gedeckt werden. Und dann gibt es schließlich ja auch noch die Angst vor der Klimaerwärmung durch den Verbrauch von fossilen Brennstoffen. Regenerative Energie – man hat angefangen mit Windenergie, das ist aber bei der Geografie Japans eine sehr, sehr schwierige Geschichte. Es gibt Ansätze, Thermalenergie zu nutzen, auch das ist nicht technisch unkompliziert. Also wir werden uns drauf einstellen müssen, dass wir in den nächsten vielleicht zehn Jahren doch erheblich mehr mit Stromsparmaßnahmen rechnen müssen als mit alternativen Energiegewinnungsmethoden.

Meyer: Die Katastrophe in Japan bietet die Chance für einen Wandel des Landes. Das sagt der Japanologe Reinhard Zöllner von der Universität Bonn. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Zöllner: Gern geschehen!