Das Massaker an der Gwangju-Bewegung 1980

Das südkoreanische Trauma

07:39 Minuten
Eine Frau sitzt weinend neben dem Grabstein eines Verwandten, der beim Aufstand 1980 getötet wurde.
Viele Angehörige von Ermordeten trauten sich erst Jahre später, öffentlich zu trauern. © picture alliance / AP Images / Kim Chon-Kil
Von Christiane Habermalz · 27.05.2020
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Bis zu 2000 Menschen verloren ihr Leben, als das südkoreanische Militär im Mai 1980 in der Stadt Gwangju die Demokratiebewegung niederschlug. Das Massaker wurde jahrelang verschwiegen, und viele Familien sind bis heute von den Ereignissen gezeichnet.
Es gibt Geschehnisse, die sind so grausam, dass man sie vielleicht nur aus der Sicht von Toten erzählen kann. In ihrem Roman "Menschenwerk" lässt die koreanische Schriftstellerin Han Kang die Seele eines 15-jährigen Schülers sprechen, der in einem Leichenhaufen liegt, erschossen von Soldaten und zurückgelassen zum Verrotten.
Han Kang ist in Gwangju geboren. Als 9-Jährige hörte sie ihre Eltern leise über die Schrecken flüstern, fand in einem Bildband versteckt das Bild eines toten Mädchens, dem die Soldaten mit Bajonetten das Gesicht aufgeschlitzt hatten. Ihr Roman "Menschenwerk" ist die Aufarbeitung eines nationalen Traumas. Er sei wie eine Kerze, die für die Toten angezündet wird, sagt die Schriftstellerin.
Im Frühjahr 1980 demonstrierten in ganz Südkorea die Menschen gegen die seit fast zwanzig Jahren herrschende Militärdiktatur. Es herrschte Aufbruchstimmung im Land. Ein paar Monate zuvor war der langjährige Machthaber General Park Chung-Hee von seinem eigenen Geheimdienstchef erschossen worden. Studenten, Gewerkschafter und Arbeiter drängten auf eine demokratische Öffnung.
Doch die mit Unterstützung der USA regierende Militärjunta unter General Chun Doo-hwan, gerade erst durch einen erneuten Putsch an die Macht gelangt, verhängt das Kriegsrecht, schließt alle Universitäten, lässt Oppositionelle verhaften – darunter auch den späteren Friedensnobelpreisträger Kim Dae-Jung.

Nur ein ARD-Journalist berichtet über die Ereignisse

Am 19. Mai fliegt der Journalist und Kameramann Jürgen Hinzpeter aus dem ARD-Studio in Tokio nach Seoul, um über die Studentenproteste zu berichten. Hinzpeter nimmt sich in Seoul ein Taxi und schlägt sich bis Gwangju durch, das vom Militär umstellt ist. Er ist der einzige Journalist, der über die Ereignisse berichtet.
"Nach vier Tagen heftiger Kämpfe gehört die Stadt Gwangju, die fünftgrößte Stadt Koreas, praktisch den Demonstranten", so Hinzpeter damals in der "Tagesschau".
"Das Militär hat einen Ring um die Innenstadt gebildet und quasi alle Verbindungen dorthin, auch Telex und Telefon, unterbrochen. Nur auf Schleichwegen ist es uns gelungen, in die Stadt hineinzukommen. Die Brutalität, mit der Fallschirmjäger und Polizei in den ersten zwei Tagen gegen die Demonstranten vorgingen, lässt sich an den schweren Verletzungen ablesen, die wir gesehen haben. Und das hat den lange aufgestauten Hass auf das Militärregime so erregt, dass schließlich mehr als 200.000 Menschen demonstrierten und etwa 30.000 in die Straßenkämpfe selbst verwickelt wurden."
Schwarzweißaufnahme von bewaffneten Soldaten, die protestierende Studenten abführen.
Auch 40 Jahre nach dem Massaker von Gwangju ist vieles noch ungeklärt.© picture alliance/YONHAPNEWS AGENCY
Geschockt von der Brutalität der Soldaten, wehrt sich die Stadt mit allen Mitteln. Studenten bewaffnen sich. Taxifahrer bringen Verletzte aus der Schusslinie, Hausfrauen kochen Essen für die Demonstranten. Doch dann, am 27. Mai, lässt das Militär Panzer auffahren. Die Hölle bricht los. Hinzpeter filmt alles, was er vor die Kamera bekommt: die Gewalt, die Leichen, lange Reihen von Särgen, die Trauer und Verzweiflung. Auf abenteuerlichen Wegen, versteckt in Keksdosen, gelingt es ihm, das Bildmaterial aus Gwangju herauszuschmuggeln und von Japan aus nach Hamburg zu schicken.
"Er war ein sehr mutiger Journalist", erinnert sich Sun-tae Song, der damals Student war. "Sie müssen sich vorstellen, die Stadt war völlig von Soldaten abgeriegelt. Am Himmel waren Hubschrauber, überall auf den Dächern waren Scharfschützen, die auf die Menschen schossen. Es gab überall Leichen, die hatten keine Köpfe mehr. Es war ein Albtraum! Und sehr gefährlich, unter diesen Umständen weiter zu drehen."
Song gehörte zu denjenigen, die die Proteste organisiert hatten. Bis heute, sagt er, fühlt er sich schuldig, dass er überlebt hat. 30 seiner Freundinnen und Freunde verloren ihr Leben. Jedes Jahr am 18. Mai geht er zu ihnen, auf den Nationalfriedhof in Gwangju.
"Viele von ihnen sind noch Wochen und Tage später an ihren schweren Verletzungen gestorben. Es war furchtbar", sagt Song. "Und bis heute gibt es Vermisste. Die Familien haben ihre Toten still begraben, aus Angst vor Verhaftung und Verfolgung."

Auch nach 40 Jahren ist vieles nicht aufgearbeitet

Song steht heute der Wahrheitskommission vor, die vor zwei Jahren eingesetzt wurde, um die Hintergründe des Massakers aufzuklären. Denn noch immer ist vieles unklar – etwa, wer damals den Schießbefehl gab – und wer die Sondereinheit von Fallschirmjägern in die Stadt zu schickte.
"Es gibt nur die Fakten, das war unglaublich brutal. Die Militärs hatten die Bürger als Feind betrachtet. Als ob sie irgendwo im Kriegsfeld gewesen wären, haben sie geschossen", erklärt Eun-jeung Lee, Professorin für Politikwissenschaft und Koreanistik an der FU Berlin. "Warum unsere Regierung, Regierungen der letzten 30 Jahre nach der Demokratisierung, diesen Punkt noch immer nicht erklären konnte, ist für mich auch ein Rätsel."
Wie viele Menschen in Gwangju ihr Leben verloren, ist bis heute nicht bekannt. Augenzeugenberichte lassen auf 2000 Tote schließen. Doch von den Verbrechen erfuhr in Korea niemand etwas – es herrschte strenge Nachrichtensperre, erinnert sich Seok-hyeon Choi, Chef der Gwangju Film Foundation, der die Geschichte des ARD-Journalisten Jürgen Hinzpeter 2017 als Spielfilm in die koreanischen Kinos brachte. Bis heute wird der Deutsche in der Stadt als Held verehrt.
"Ich habe damals ins Seoul studiert", sagt Choi. "Dort wurde in den Nachrichten erzählt, dass in Gwangju Kriminelle auf den Straßen randalieren würden. Niemand wusste, was dort geschah. Das Militär kontrollierte alle Medien. Erst später erfuhren wir von den Ereignissen – über Koreaner, die im Ausland Hinzpeters Reportage gesehen hatten und die entsetzt zuhause anriefen und erzählten, was passiert war.
Für die Demokratiebewegung im Land wurde Gwangju bald zum wichtigen Symbol und Referenzpunkt, sagt Politologin Eun-Jeung Lee:
"In der allgemeinen Öffentlichkeit, in unserem Diskurs war es klar, das waren die Bürger, die gegen die Diktatur, für die Demokratie ihr Leben geopfert haben. Auf deren Opfer hat sich auch die Bewegung für die Demokratisierung des Landes weiter berufen können. Und das ist ein Zeichen, dass die Bürger auch bereit gewesen sind, ihr Leben zu opfern, wenn es um die Demokratie geht."

Nur langsam zur Trauerarbeit bereit

Doch erst 1992, als unter Präsident Young-sam Kim demokratische Reformen eingeleitet wurden, begann in Südkorea eine breite Debatte um Schuld und Verantwortung für die Verbrechen. Am Ende wurden die verantwortlichen Militärs vor Gericht gestellt, zwei ehemalige Präsidenten verurteilt, Ex-Präsident General Chun Doo-hwan sogar zum Tode. Doch sie wurden rasch begnadigt, schon nach ein paar Jahren kamen sie wieder auf freien Fuß.
Im modernen Korea ist das Interesse für die Ereignisse von Gwangju eher gering. Nur in der Stadt selbst wird regelmäßig auf Gedenkveranstaltungen an die Toten erinnert. Viele Familien sind bis heute tief gezeichnet. "Man kann das Trauma nicht heilen, man kann es nur annehmen", sagt die Schriftstellerin Han Kang. Ihr Roman leistet die Trauerarbeit, zu der die koreanische Gesellschaft nur langsam in der Lage ist.
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