Das Lied von der nackten Engelschar

von Simon Schomäcker |
Eigentlich sind Friedhöfe ja eher Orte der Ruhe und der Reflexion. Das ist aber wohl nicht zwingend so, jedenfalls nicht im Kölner Südfriedhof. Ein Mann zieht, mit seiner Gitarre bewaffnet, zwischen den Grabsteinen herum und singt, was das Zeug hält.
Ein sonniger Sonntagmorgen in Köln. Das schöne Wetter hat eine 30-köpfige Besuchergruppe auf den Südfriedhof gelockt. Die Teilnehmer im Alter von 20 bis 70 Jahren haben einen Halbkreis um Günter Schwanenberg gebildet. Der 53-jährige steht mit seiner Gitarre vor einem Grab und singt ein Lied in kölschem Dialekt.

Günter Schwanenberg ist ein großer Mann mit kurzem, grauem Haar und einem schmalen Gesicht. Der Hobby-Historiker wuchs in Köln auf und beschäftigt sich intensiv mit der Kulturgeschichte seiner Heimatstadt. Seit 2005 veranstaltet er regelmäßig musikalische Rundgänge über den Südfriedhof.

Günter Schwanenberg: "Es geht mir darum, das Andenken an Leute zu pflegen, die in Köln ihre Spuren hinterlassen haben. ‚Wer jitt watt he hätt, es wäät dat he lääv‘, das wissen die Kölnerinnen und Kölner. Und mir geht es eben auch darum, zu sagen: Wer gab, was er hatte, auch der ist wert, dass an ihn erinnert wird‘. Und natürlich möchte ich genau das, was diese Leute damals geschrieben haben, hier auf dem Friedhof präsentieren."

Schwanenberg betont, dass sich seine Stadtführer-Kollegen oft erstaunt über die Wahl des Südfriedhofes äußern. Denn der größte Teil der Kölner Prominenz liegt auf dem bekannteren Friedhof Melaten. Der Südfriedhof aber wurde noch nicht so ausgiebig erforscht und…
Schwanenberg:"…dieser Friedhof ist ein begehbares Archiv. Er ist Teil unserer Stadtgeschichte. Und es ist ein Vorurteil, dass der Südfriedhof keine prominenten Namen hätte…"
…fiel Günter Schwanenberg auf, als er Kölns größten Friedhof einmal genauer betrachtete.

Dabei stieß er unter anderem auf den Schriftsteller und Mundartautor Wilhelm Räderscheidt. Sein mit Immergrün bewachsenes Grab wirkt eher unscheinbar. Die drei Kronen auf dem verwitterten Grabstein stehen jedoch symbolisch für einen einflussreichen Kölner Künstler. An eines seiner Lieder hat Schwanenberg eine Kindheitserinnerung:

Schwanenberg: "Wenn ich als kleiner Junge mit meiner Oma, die nur Kölsch sprach, unterwegs war und ich wollte was – ein Eis oder Gummibärchen oder ein Mickeymausheft. Dann hat meine Oma gesagt: ‚Weißte watt Jung, die Jeiß wollt eine lange Stätz han‘. Und das ist das berühmte Lied aus dem Jahre 1894, in dem Räderscheidt uns mal eben den Lauf der Welt am Beispiel einer kleinen Jeiß erklärt."

"Oh Gott, oh Gott, oh Gott! Das lassen Sie mal gleich schön bleiben"
Der skurrile Gegensatz von kölschen Liedern und Friedhof macht Günter Schwanenbergs Führungen zu einem besonderen Erlebnis. Dennoch ist dem Geschichts-Enthusiasten bewusst, dass beim Zusammenstellen der Lieder Vorsicht geboten ist. Die Friedhofsverwaltung reagierte skeptisch, als Schwanenberg vor acht Jahren sein Konzept vorstellte.

Schwanenberg: "Da hab ich gesagt, ich mache das, was ich sonst auch immer mache. Nämlich ich nehme meine Gitarre mit und ich würde da gerne auch Lieder singen."

'Oh Gott, oh Gott oh Gott! Das lassen Sie mal gleich schön bleiben und vergessen das wieder. Denn das geht gar nicht!' Es hat ungefähr ein halbes Jahr gedauert, ein Schriftwechsel zwischen der Friedhofsverwaltung und mir. Und ich bin sehr froh, dass es dieses Intermezzo gegeben hat. Denn ich konnte mich schon überprüfen, ob ich das, was ich hier mache, auch angemessen mache."

Darum verzichtet Schwanenberg auch stets auf einen sehr bekannten Titel. Zwar sind die Noten von 'Heidewitzka Herr Kapitän' auf Karl Berbuers marmornem Grabstein eingemeißelt. Trotzdem spielt Günter Schwanenberg lieber ein Lied des Komponisten, das besser auf den Friedhof passt.

Schwanenberg: "Berbuer hatte damals dieses Lied geschrieben. Er wollte es am 11.11.1977 dann auch vortragen. Er erleidet allerdings einen Schlaganfall und er kann es nicht. Er stirbt am 17. November und dieses Lied bleibt sozusagen ungesungen. Wer mit Berbuer jetzt verbindet 'Heidewitzka', der wird ein bisschen überrascht sein über die Sentimentalität, die Berbuer in dieses Lied gelegt hat."

Die letzte Station der heutigen Führung ist das Grab von Henner Berzau. An der kleinen Ruhestätte mit Stiefmütterchen und schlichtem Stein wird Günter Schwanenberg sentimental. Denn als Kinderarzt hat Berzau ihn und später außerdem seine Kinder behandelt. Es entwickelte sich eine Freundschaft zu Berzau, der auch Musiker war. Schwanenbergs Friedhofsführungen interessierten ihn sehr.

Schwanenberg: "Und als die Familie ihn dann im Sterben begleitet, stellt sie ihm die Frage; ‚Wo wirst du beerdigt?‘ Und dann hat er gesagt: 'Ich möchte auf den Südfriedhof. Und ab und zu soll der Günter vorbeikommen und mir ein Liedchen singen.' Das Lied, das ich ihm auch zur Beerdigung spielen durfte. ' Ich wünsche üch ne Engel für de Heimweg '"

Mit diesen gesungenen Worten verabschiedet Günter Schwanenberg seine Gruppe. Teils gerührt, teils überrascht gehen die Gäste von der Ruhe des Friedhofes zurück ins Großstadtleben.
Ein Teilnehmer meint: "Mir hat die gute Mischung gefallen. Ein bisschen nachdenklich, ein bisschen traurig und auch viel Lustiges. Der Friedhof verliert so seinen Schrecken."
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