Das letzte Zucken des Sozialismus
Nur wenige welthistorische Ereignisse geschahen so unerwartet wie der Mauerfall vor 20 Jahren. Ilko-Sascha Kowalczuk schildert in diesem Buch, wie es 1989 zur Revolution in der DDR kam und welche Entwicklungen die Zeit zwischen Sommer 1989 und den freien Wahlen vom 18. März 1990 prägten.
Fußballbegriffe versteht fast jeder. Kein Wunder, dass sich der 1967 geborene Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk nicht nur beim Titel für sein großartiges Buch über die ‚89er-Revolution in der DDR beim Fußball bedient. Er geht dafür bis ins Jahr 1954 zurück, zum WM-Endspiel zwischen der BRD und Ungarn, das die Bundesrepublik mit 3:2 gewann.
In der DDR wurde damals mancherorts vor Freude das Deutschlandlied gesungen. Der DDR-Radiokommentator jedoch hatte ein Problem: Sollte er jubeln, weil „Deutschland“ gewonnen hatte? Sollte er die Ungarn für ihre Niederlage bedauern? Im einen Fall wäre er danach die längste Zeit Kommentator gewesen, im anderen hätte er einen Teil seiner Hörer verprellt. Was tat er? Er schwieg. Er schwieg schier endlose 40 Sekunden lang – im Radio eine Ewigkeit.
Genauso haben es die SED-Oberen am Ende der DDR getan. Auf die Krisensituation im Land reagierte die Parteiführung immer häufiger mit Schweigen. Endspiel, das hat auch was von „Warten auf Godot“, denn das Ende der DDR trug durchaus Züge von absurdem Theater. Egal, in welchen Bereich der Autor schaut, ob in die Läden, in denen es nichts oder nicht das, was man brauchte, zu kaufen gab, in den Fußball, der – abgesehen vom 74er-Sparwassser-Tor – international nicht reüssieren konnte, in die Wirtschaft, die immer am Limit produzierte, in die Umwelt: „in der DDR war alles grau, nur die Flüsse waren bunt“, hieß ein bekannter Satz.
Wie ein Kaleidoskop fächert Kowalczuk die internationalen und inneren Entwicklungen auf, die zur Revolution führten. Als Beginn der finalen Krise des Kommunismus in Europa erinnert er an die Zeit Ende der 70er, Anfang der 80er-Jahre, als sich zehn Millionen Polen der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnocz anschlossen. Und an die Inthronisation Michail Gorbatschows als KPdSU-Generalsekretär, der sich mit seiner Politik von Glasnost und Perestrojka die heftige Gegnerschaft der Parteichefs in Bukarest, Prag und Ost-Berlin einhandelte.
Nach deren Verständnis bedeutete jede Reform des Sozialismus auch zugleich sein Ende – womit sie ausnahmsweise recht hatten. Von SED-Politbüromitglied Kurt Hager erfuhr man (ausgerechnet aus einem „Stern“-Interview):
„Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“
Den Spitznamen „Tapeten-Kutte“ wurde er danach nicht mehr los.
Die DDR reformieren oder abschaffen? Das war auch ein nie aufgelöster Widerspruch innerhalb der Opposition, deren handelnde Personen Kowalczuk bis ins Detail beschreibt. Die, teils unfreiwillig, teils gewollt, vor allem unter den Dächern der Kirchen agierten.
Er erinnert an den Mut derer, die den Wehrdienst bei der NVA verweigerten, an die Bürger, die die Kommunalwahlen im Mai ‚89 als Fälschung entlarvten, und beschreibt das Tempo, mit der ein Staat zusammenfiel und seinen Bürgern damit ein bis dahin ungekanntes Verhältnis zur Zeit bescherte.
Für jeden, der als halbwegs Erwachsener dieses Jahr erlebt hat, das Kowalczuk bis zum 18. März 1990, dem Tag der ersten freien Volkskammerwahlen verlängert, scheint es, als habe er einer geradezu zwangsläufigen Entwicklung beigewohnt, als Stürmer oder linker Verteidiger, im Tor oder auf den Zuschauerrängen. Dagegen verwahrt sich der Autor, der den Ausgang von geschichtlichen Prozessen als offen beschreibt. Wozu er sich aber eindeutig bekennt, das ist seine Zeitzeugenschaft. Die gibt Kowalczuk, trotz aller historischen Genauigkeit, Quellen- und Materialfülle, niemals auf.
Unter Geschichtswissenschaftlern wird seit etwa 100 Jahren darüber gestritten, ob das Fach eine Wissenschaft oder eine Kunst ist. Liest man dieses Buch, dann ist sie beides: Wissenschaft Und Kunst. Kowalczuk hat ein furioses Buch über die ‚89er Revolution in der DDR geschrieben: klug und saftig, erfrischend unideologisch und mit milder Ironie.
Rezensiert von Liane von Billerbeck
Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR
Ch. Beck Verlag, München 2009
602 Seiten, 24,90 €
In der DDR wurde damals mancherorts vor Freude das Deutschlandlied gesungen. Der DDR-Radiokommentator jedoch hatte ein Problem: Sollte er jubeln, weil „Deutschland“ gewonnen hatte? Sollte er die Ungarn für ihre Niederlage bedauern? Im einen Fall wäre er danach die längste Zeit Kommentator gewesen, im anderen hätte er einen Teil seiner Hörer verprellt. Was tat er? Er schwieg. Er schwieg schier endlose 40 Sekunden lang – im Radio eine Ewigkeit.
Genauso haben es die SED-Oberen am Ende der DDR getan. Auf die Krisensituation im Land reagierte die Parteiführung immer häufiger mit Schweigen. Endspiel, das hat auch was von „Warten auf Godot“, denn das Ende der DDR trug durchaus Züge von absurdem Theater. Egal, in welchen Bereich der Autor schaut, ob in die Läden, in denen es nichts oder nicht das, was man brauchte, zu kaufen gab, in den Fußball, der – abgesehen vom 74er-Sparwassser-Tor – international nicht reüssieren konnte, in die Wirtschaft, die immer am Limit produzierte, in die Umwelt: „in der DDR war alles grau, nur die Flüsse waren bunt“, hieß ein bekannter Satz.
Wie ein Kaleidoskop fächert Kowalczuk die internationalen und inneren Entwicklungen auf, die zur Revolution führten. Als Beginn der finalen Krise des Kommunismus in Europa erinnert er an die Zeit Ende der 70er, Anfang der 80er-Jahre, als sich zehn Millionen Polen der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnocz anschlossen. Und an die Inthronisation Michail Gorbatschows als KPdSU-Generalsekretär, der sich mit seiner Politik von Glasnost und Perestrojka die heftige Gegnerschaft der Parteichefs in Bukarest, Prag und Ost-Berlin einhandelte.
Nach deren Verständnis bedeutete jede Reform des Sozialismus auch zugleich sein Ende – womit sie ausnahmsweise recht hatten. Von SED-Politbüromitglied Kurt Hager erfuhr man (ausgerechnet aus einem „Stern“-Interview):
„Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“
Den Spitznamen „Tapeten-Kutte“ wurde er danach nicht mehr los.
Die DDR reformieren oder abschaffen? Das war auch ein nie aufgelöster Widerspruch innerhalb der Opposition, deren handelnde Personen Kowalczuk bis ins Detail beschreibt. Die, teils unfreiwillig, teils gewollt, vor allem unter den Dächern der Kirchen agierten.
Er erinnert an den Mut derer, die den Wehrdienst bei der NVA verweigerten, an die Bürger, die die Kommunalwahlen im Mai ‚89 als Fälschung entlarvten, und beschreibt das Tempo, mit der ein Staat zusammenfiel und seinen Bürgern damit ein bis dahin ungekanntes Verhältnis zur Zeit bescherte.
Für jeden, der als halbwegs Erwachsener dieses Jahr erlebt hat, das Kowalczuk bis zum 18. März 1990, dem Tag der ersten freien Volkskammerwahlen verlängert, scheint es, als habe er einer geradezu zwangsläufigen Entwicklung beigewohnt, als Stürmer oder linker Verteidiger, im Tor oder auf den Zuschauerrängen. Dagegen verwahrt sich der Autor, der den Ausgang von geschichtlichen Prozessen als offen beschreibt. Wozu er sich aber eindeutig bekennt, das ist seine Zeitzeugenschaft. Die gibt Kowalczuk, trotz aller historischen Genauigkeit, Quellen- und Materialfülle, niemals auf.
Unter Geschichtswissenschaftlern wird seit etwa 100 Jahren darüber gestritten, ob das Fach eine Wissenschaft oder eine Kunst ist. Liest man dieses Buch, dann ist sie beides: Wissenschaft Und Kunst. Kowalczuk hat ein furioses Buch über die ‚89er Revolution in der DDR geschrieben: klug und saftig, erfrischend unideologisch und mit milder Ironie.
Rezensiert von Liane von Billerbeck
Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR
Ch. Beck Verlag, München 2009
602 Seiten, 24,90 €