Das letzte Gefecht

Von Michael Laages · 15.11.2012
In der Aufführung von Sebastian Hartmann scheinen einige Motive aus dem Faust-Steinbruch heraus gemeißelt worden zu sein. Auch die Texte werden vom Ensemble - darunter Schauspielerin Heike Makatsch - nicht gesprochen sondern geröchelt und geschrien. Alles grotesk und grandios zugleich.
Das Leipziger Schauspiel im "Centraltheater" der Stadt ist wirklich ein sonderbarer Ort. Kaum hatte die Spielzeit im September begonnen, da ist sie auch schon zu Ende; jedenfalls fast, und was die Produktionen auf der Großen Bühne betrifft. Drei kleine Arbeiten in der "Skala" folgen noch, aber den ganzen Januar bittet der scheidende Chef Sebastian Hartmann zum Schlussverkauf aller Stücke, die noch im Spielplan sind. Dann wird das Haus innen einen Monat lang zu einer Art antiker Agora-Rundbühne umgebaut, und auf der finden dann ab März noch zweieinhalb Monate lang die "Leipzig Festspiele" statt – Hartmann lädt alle ein, die jemals hier gearbeitet haben, im Schnelldurchlauf ein Stück für ein paar Tage am Stück, also en suite zu erarbeiten. Noch einmal zeigt der Sonderling Hartmann, dass er eigentlich ein anderes Theater will – und auch "Mein Faust" sieht noch einmal genau so aus. Oder besser: hört sich so an … Wenn der Intendant nicht schon weite Teile der lokalen Theaterkundschaft gegen sich aufgebracht hätte, wäre ihm das jetzt bestimmt gelungen.

Zwei Warnungen vorweg – von Goethes originalem "Faust" ist an diesem Abend praktisch gar nicht die Rede; eher schon hat Sebastian Hartmann einige Motive aus dem Faust-Steinbruch heraus gemeißelt, die für ihn ganz privat, seine persönliche Spiel- und Denkfantasie Bedeutung haben. Und um gar nicht erst auf Goethes Spur zu kommen, hat der Motiv-Monteur auch die Sprache komplett eliminiert; besser: die Worte. Gesprochen wird kein Wort; was Stimme ist, ist Röcheln, Kreischen, Schreien, Stöhnen, Lachen, Grummeln, Murmeln, unzusammenhängender Silbensalat und Dada-Palaver. "Lanke-trrrr-glll" komponierte Kurt Schwitters einst für die "Sonate in Urlauten" – schon das aber wäre für Hartmann viel zu geformt und konstruiert. – Das war die eine Warnung.

Die zweite: Heike Makatsch (das interessiert den Boulevard) spielt zwar mit, wie schon zwei Mal zuvor in Hartmanns furiosem Typen-Ensemble, aber eine Rolle im engeren Sinne spielt sie nicht. Also, kein Gretchen. Alle Frauen könnten Gretchen, alle Männer auf der Bühne Fäuste sein. Manchmal sieht der eine oder die andere ein bisschen mehr nach Hauptperson aus; aber Rollen gibt’s nicht. Keine Worte, keine Rollen. Ja, was denn dann?

Ein Feuerwerk, in doppeltem Sinn – zunächst ein richtiges, eine Art Tischfeuerwerk; das wird in einem kleinen Glaskasten auf der Bühne abgefackelt, Sternenhagel und herrlichste Farben, aber weggeschlossen im Glas-Gefängnis. Das ist das erste Bild, und es ist (für alle, die sehen und verstehen wollen) ein Motto – denn es zeigt vor allem gefangene Schönheit. Wer will, kann von nun auch das Ensemble so sehen und verstehen – eindrucksvolle Wesen, gefangen in schrecklichen Beschränkungen und schmerzhaften Prozessen. Alle ausstaffiert mit vorzeitlichen Turm-Frisuren wie für den Barock-Salon und entsprechender Herren-Garderobe, starten sie Spielversuche – da kommt erst die Frau, die nur unterdrücktes Schreien fertig bringt vor lauter Angst auf der Bühne; dann der Mann, der ihr Feuer, also Licht bringt und beides am liebsten verschlucken würde; dann einer, der (vielleicht) ein Faust ist – prunkt, protzt, balzt, reißt sich das Hemd auf, will haben, irgendetwas … bis ihm – aus dem Hintergrund- das versammelte Ensemble beim zwanghaften Wollen zuschaut. Da packt er die Klamotten ein, und ab.

Jetzt kommen alle vor und fangen an, "Beziehungen zu knüpfen" – oder anders: balgen sich und schreien und girren und kichern und lachen. Einer ist darunter, der ist so diabolisch stumm, dass er ein Mephisto sein könnte; vielleicht. Eines der Mädchen trägt eine ganze Dreimastbark in der Perücke – sie könnte ein Gretchen sein, denn sie wird jetzt verführt, und der Quasi-Faust vom Beginn schwängert sie. Gleich darauf spielt das Mädchen Totstechen mit einem anderen, vielleicht dem Bruder Valentin; aber sie spielen mit Theater-Dolchen und fallen immer selber um wie tot, wen sie stechen. Wer gestochen wird, wacht wieder auf. Verkehrte Welt.

Das ist "Mein Faust" von Sebastian Hartmann: Verkehrte Welt als Feuerwerk aus Spiel-Angeboten zu menschlichen Urlauten. Eine Entmannung gibt’s auch, weibliche Masturbation und ein nacktes Paar im Schlamm – dahinter sitzt übrigens ein Musiker an Klavier, Computer, Sitar und Gongs und Mikrophonen, der sich "Nackt" nennt und auch nackt ist. Gegen Ende prüft ein Clown das eigene Geschlecht. Gerade hat er riesige Schnabelschuhe gefunden im dunklen Erdboden hinten auf der Bühne, jetzt probiert er Schnelllaufen; als er kurz danach die Schuhe wieder verliert, bietet eine Frau ihm ihre an – und jetzt probiert er die, und: ob er nicht vielleicht auch ein ordentliches Weib sein könnte. Einmal ist das ganze Ensemble rechts am Bühnenrand versammelt und klopft in losgelassenem Gelächter das schöne alte Holz ab im Centraltheater – ein Glückswunsch, der nicht mehr eingelöst werden wird.

Ganz armselig kann dieser Abend sein, auch mal langweilig, wenn den Regisseur sein an sich ausgefuchster Sinn für das Timing und die aushaltbare Länge von Szenen verlässt … aber grandios ist "Mein Faust" eben auch: in der Groteske, im Ursprünglichen, in Ratlosigkeit und Verzweiflung. Mit diesem Abenteuer wird Hartmanns kurze Leipziger Zeit in Erinnerung bleiben – als Experiment, das gescheitert ist.

Aber Hartmanns Fan-Gemeinde wuchs auch bis zum Schluss – und sehr viel Besseres ist halt auch noch lange nicht in Sicht.

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