Das Leben nach der Katastrophe

Nach dem tödlichen Flugzeugabsturz ihrer Familie sucht die 18 Jahre alte Julie verzweifelt nach einer besonderen Art, sich umzubringen. Der norwegische Autor Erlend Loe erzählt in einer grotesken Geschichte die Irrfahrt der todessüchtigen Ich-Erzählerin. Dabei beleuchtet er die einfache existentielle Frage, warum sich das Leben überhaupt lohnt.
Alles beginnt mit einem Flugzeugabsturz. Die achtzehnjährige Julie erhält per SMS von ihrem Vater eine letzte Nachricht: "Wir stürzen ab. Ich liebe Dich. Tu, was du willst. Papa." Julie wird ihre Eltern und den kleinen Bruder nicht wiedersehen. Vor kurzem noch wünschte sich die Teenagerin endlich einmal allein zu sein. Nun ist dieser Wunsch traurige Realität geworden.

In der deutschen Übersetzung des Romantitels deutet sich Julies Antwort auf die Katastrophe an: "Ich bring mich um die Ecke". Am Silvesterabend fasst sie den Beschluss, sich umzubringen. Da Julie ein verwöhnter Sprössling der Osloer Upper Class ist und im reichsten Viertel der norwegischen Metropole wohnt, lehnt sie die gängigen Mordmethoden als "vulgär" ab. Ihr Selbstmord soll exklusiv sein. Und sie will als spektakuläre Leiche Schlagzeilen machen. Nach zwei misslungenen Versuchen nimmt sie die Scheckkarte des toten Vaters und beginnt ziellos durch die Welt zu reisen: Bangkok, Seoul, Brüssel, Bukarest, New York. Julie will diese Städte nicht kennen lernen, sie sucht einen gefährlichen Ort, wo es sich lohnt, zu sterben.

Der norwegische Autor Erlend Loe, 1969 in Trondheim geboren, erzählt eine groteske Geschichte. Doch hinter der Irrfahrt der todessüchtigen Ich-Erzählerin steckt eine einfache existentielle Frage. Wie ist ein Leben nach einer Katastrophe möglich. Welche Verdrängungsstrategien werden entwickelt, damit die Zukunft wieder Konturen bekommt. In einer Sitzung mit ihrem Psychologen, fragt sich Julie, was sie denn überhaupt in diesem Leben versäumt.

"Ja, sagte ich, ein Leben voll globaler Erwärmung und Vogelgrippe und Terror in der S-Bahn und einen bevorstehenden Weltkrieg und Liebste, die mich verlassen, und Prüfungen, zu denen mir die Motivation fehlt, und tagtägliche fürchterliche Gedanken an Mama und Papa und Tom."

Der Roman ist in Tagebuchform geschrieben und umfasst ein Jahr. Jeder Eintrag ist datiert. Alles, was die Ich-Erzählerin erlebt, fühlt oder träumt, geht unmittelbar in den Text ein. Sie bestimmt, was aufgeschrieben wird. Es gibt nur dieses Ich, das sich zum Nabel der Welt macht. So ist der Roman das Ergebnis eines habituellen Vorgangs, der Julie hilft, in den Alltag zurückzukehren. Das alles klingt nach einer gelungenen Therapie. Doch scheinbar ganz nebenbei verhandelt Loe ein großes Thema: Es gibt keine Sicherheit in einer globalisierten Welt.

Erlend Loe nähert sich einem ernsten Thema mit viel Humor. Julies verbissene Art, sich "um die Ecke zu bringen", führt zu vielen komischen Situationen. Diese Mischung aus Tragik und Komik sowie klare Erzählstrukturen haben Erlend Loe in kurzer Zeit zu einem der wichtigsten Romanautoren in Norwegen gemacht.

Rezensiert von Carola Wiemers

Erlend Loe: "Ich bring mich um die Ecke."
Titel der Originalausgabe: Muleum.
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 189 Seiten, 7,95 Euro.