Das Leben ist ein Mysterium

Rezensiert von Jörg Magenau |
In dem neuem Buch des Berliner Autors Matthias Zschokke, "Maurice mit Huhn", geht der Leser zusammen mit dem Flaneur Maurice auf eine Entdeckungsreise in der Großstadt Berlin. Das Alter Ego des Autors Maurice erlebt nicht viel Spannendes, es ist vielmehr der Rhythmus und Fluss des Lebens, den er mit Präzision liebevoll dokumentiert. Als schweizerischer Erzähler in der Tradition Robert Walsers begegnet Zschokke dem Mysterium "Leben" staunend und erzählend.
In Matthias Zschokkes Erzählungsband "Ein neuer Nachbar" gab es eine Geschichte mit dem Titel "Das Cello". Sie handelte von einem Mann, der durch die Wand seines Büros immer wieder die Töne eines Cellos hört. Die Klänge faszinieren ihn, und er stellt sich vor, wer dort im Verborgenen übt.

Es gelingt ihm nicht zu lokalisieren, woher die Musik kommt: irgendwo aus dem Nachbarhaus in einem verwinkelten Berliner Hinterhofkomplex. Doch eigentlich will er es auch gar nicht wissen. Seine Suche bleibt halbherzig, und die Phantasien um eine schöne Cellistin sind zu kostbar, als dass sie durch eine Enttäuschung in der Wirklichkeit aufgewogen werden könnten.

Die Geschichte endete mit dem lakonischen Vermerk: "Fortsetzung folgt". Der Roman "Maurice mit Huhn" ist nun diese Fortsetzung, wenn man bei einem Buch, das allerlei Geschichten, Beobachtungen, Empfindungen, Reflexionen und Aphorismen versammelt, überhaupt von einer Fortsetzung reden kann. Eine nacherzählbare Handlung gibt es nicht. Vielmehr geht um das Leben selbst, um das Verstreichen der Zeit, den Alltag und das Altern und um die Wahrnehmung der Dinge.

"In jeder Sekunde geschieht alles", heißt es an einer Stelle, "doch wir sehen es nicht und empfinden Stillstand. Wir glauben, interessant sei das Außergewöhnliche, die Rhythmusstörung, der Aussetzer. Das Grandiose ist aber der Rhythmus, der Fluss, die Allgegenwart. Wenn wir jederzeit offen wären, zu sehen, was uns umgibt, dann hätten wir ein Leben voller Überraschungen."

Also kann in diesem außergewöhnlichen Buch alles interessant werden: die Spatzen, die im Sand baden, ein Besuch beim Arzt, die Veränderungen in der benachbarten Konditorei, der Wechsel der Jahreszeiten und die Läuse im Efeu, das notorische Fensterputzen und eben auch die Töne eines Cellos.

Matthias Zschokke wurde 1954 in Bern geboren und lebt seit 30 Jahren als Schriftsteller, Filmemacher und Theaterautor in Berlin. Mit Maurice hat er sich ein Alter Ego geschaffen, einen Flaneur in der Großstadt, der gerne mit dem Fahrrad unterwegs ist und der die abgelegenen Gebiete bevorzugt. Im Wedding hat er einen Büroraum gemietet, wie Zschokke selbst. Allerdings ist Maurice kein Schriftsteller, sondern betreibt ein "Kommunikationskontor".

Dort übernimmt er die Amtskorrespondenzen für "ausländische und orthographisch benachteiligte Mitbürger". Das heißt: Er hat so leidlich sein Auskommen, sitzt aber sehr oft einfach nur herum, denkt nach und schreibt ein paar Briefe an seinen Freund Hamid (der am Ende stirbt). Der erste Satz des Romans ist Programm: "Wieder nichts zu tun gehabt."

Zschokke ist ein sehr schweizerischer Erzähler in der Tradition Robert Walsers. Action- und spannungsorientierte Leser müssen vor ihm gewarnt werden. Alle anderen können in seinen Büchern auf Entdeckungsreisen gehen. Maurice preist die Stille und möchte am liebsten, wie alle echten Indianer, unhörbar sein, wenn er sich durch die Welt bewegt. Menschen zu begegnen und gar Gespräche führen zu müssen ist ihm zuwider. Reisen hält er eigentlich für überflüssig, unterzieht sich aber dennoch immer wieder dieser Anstrengung.

Mehrmals reist er in sein Schweizer Heimatdorf, wo er Seltsames erlebt: Eine Schulklasse mit Koffern in der Hand marschiert durch den Ort, weil die Kinder, wie der Lehrer erklärt, begreifen sollen, was es bedeutet, vertrieben zu werden. In diesem Ort bei Bern löst sich auch das Rätsel des Romantitels: "Maurice mit Huhn" ist ein Bild des hier geborenen Malers Albert Anker, eines Naturalisten aus dem 19. Jahrhundert. Ihm, der einst häufig nach Paris reiste, ist es zu verdanken, dass auch heute noch die Züge hier halten und dass die Jungen im Ort häufig "Maurice" heißen.

"Maurice mit Huhn" ist ein Roman, der wie eine Wundertüte funktioniert. Er enthält großartige Geschichten – ob vom sterbenden Präsidenten Mitterand oder von homoerotischen Kindheitserfahrungen. Die Töne des Cellos aus dem Nachbarhaus verbinden die disparaten Momente. Das Leben ist ein Mysterium, dem man nur staunend – und das heißt: erzählend – begegnen kann. Doch das Verstreichen der Zeit lässt sich nicht fassen.

"Nicht einmal das Leichteste, nicht einmal meinen Schatten und meinen eigenen Geruch kann ich halten, nichts, alles löst sich auf", notiert Maurice.

Matthias Zschokke: Maurice mit Huhn
Roman. Ammann Verlag, Zürich 2006
240 Seiten, 18,90 Euro