"Das Leben fängt heute an"
"Übriggeblieben zufällig". Diese Anfangszeile des Gedichts "Heimweg 1945" von Inge Müller verwendet Sonja Hilzinger in ihrer Biographie <em>Das Leben fängt heute an</em> als zentrales Motiv, um die Lebensgeschichte der Lyrikerin, Dramatikerin und Kinderbuchautorin von einem einschneidenden Wendepunkt aus rekonstruieren zu können.
Die Worte "Übriggeblieben zufällig", von denen Adolf Endler sagt, sie seien eigentlich nicht typisch für Inge Müller, weil sie sehr brechtisch klingen, sind als Klammer für eine biographische Beschreibung dennoch gut gewählt. Denn Inge Müller, die als Neunzehnjährige am 8. April 1945 zur Wehrmacht einberufen wird, erfährt das Jahr 1945 als Zäsur. Beim Versuch, Wasser zu holen, wird sie Ende April 1945 von einem einstürzenden Haus lebendig begraben und bleibt drei Tage verschüttet. In den Gedichten "Unterm Schutt" I bis III beschreibt sie dieses frühe, einschneidende Erlebnis, das ihr weiteres Leben prägt - "Und dann fiel auf einmal der Himmel um", heißt es in "Unterm Schutt II". Nach ihrer Rettung macht sie sich auf die Suche nach ihren Eltern, die bei einem Bombenangriff ebenfalls verschüttet wurden und ums Leben kamen. Eigenhändig gräbt sie ihre Eltern aus, um sie zu beerdigen. Als sie von der Suche zurückkommt, fehlt an der Hand der Mutter ein Ring und der Finger, an dem sie ihn trug. Diese frühen Erfahrungen, in denen der Tod überpräsent ist, vermitteln ihr das Gefühl, dass ihr Überleben Zufall gewesen ist und lassen das Jahr 1945 zur Chiffre werden.
Diese biographischen Details wie auch andere Abschnitte aus dem Leben von Inge Müller bis hin zu ihrem Selbstmord am 1. Juni 1966 waren bereits vor Erscheinen von Sonja Hilzingers Biographie ebenso bekannt wie die äußerst produktiven, zugleich aber auch komplizierten Jahre während ihrer Ehe mit Heiner Müller. Zwar geriet die Autorin nach ihrem Tod in Vergessenheit, aber mit ihrer Wiederentdeckung, die durch den von Richard Pietraß herausgegebenen Lyrikband Wenn ich schon sterben muß von 1985 eingeleitet wurde, begannen auch die Versuche, ihr Leben zu rekonstruieren und ihr Werk für eine interessierte Öffentlichkeit zu erschließen. Seither ist Inge Müller alles andere als eine weithin unbekannte Autorin. Inzwischen zählt sie - auch wenn das ein später Ruhm ist - zu den wichtigsten deutschsprachigen Nachkriegslyrikerinnen.
Biographisches Neuland musste Sonja Hilzinger also nicht erschließen, der es in ihrem Buch über Inge Müller gelingt, einige wesentliche Lebensetappen deutlicher zu Tage treten zu lassen, während sich für andere Zeitabschnitte, wie die dreißiger Jahre, im Nachlass von Inge Müller keine verwertbaren Hinweise finden. Es gibt auch keine Kommentare der Autorin zu den politischen Verhältnissen der fünfziger Jahre in der DDR, die mit Schauprozessen und den Folgen des XX. Parteitag der KPdSU überschattet waren. Diesem Mangel an Fakten begegnet Hilzinger, in dem sie häufig Vermutungen darüber anstellt, wie es gewesen sein könnte, so dass über weite Strecken eine Verdachtsbiographie entsteht, in der zu häufig der Konjunktiv gebraucht wird.
Nicht zwingend sind auch eine Reihe von Exkursen, die sich in dem Buch finden, weil sich Bezüge zu Inge Müller nur vage oder überhaupt nicht herstellen lassen. So wird in dem Kapitel "Parallele Lebensläufe und Konflikte" Inge Müller in Beziehung zu Autorinnen wie Brigitte Reimann, Irmtraud Morgner und Christa Wolf gebracht, obwohl es zwischen Inge Müller und den genannten keinerlei Kontakte gab. Zu häufig wird Christa Wolf auch an anderen Stellen als Vergleichsperson herangezogen, wobei der Generationenbruch zwischen beiden - Christa Wolf ist entscheidende vier Jahre jünger als Inge Müller - nivelliert wird. Hier hätte man sich - wie auch übrigens bei der Zeittafel am Ende des Buches, die voller Fehler ist, selbst das Sterbedatum wird falsch angegeben - mehr Aufmerksamkeit von Seiten der Autorin und des Lektorats gewünscht.
Sonja Hilzinger
Das Leben fängt heute an. Inge Müller
Aufbau-Verlag
22,90 Euro
Diese biographischen Details wie auch andere Abschnitte aus dem Leben von Inge Müller bis hin zu ihrem Selbstmord am 1. Juni 1966 waren bereits vor Erscheinen von Sonja Hilzingers Biographie ebenso bekannt wie die äußerst produktiven, zugleich aber auch komplizierten Jahre während ihrer Ehe mit Heiner Müller. Zwar geriet die Autorin nach ihrem Tod in Vergessenheit, aber mit ihrer Wiederentdeckung, die durch den von Richard Pietraß herausgegebenen Lyrikband Wenn ich schon sterben muß von 1985 eingeleitet wurde, begannen auch die Versuche, ihr Leben zu rekonstruieren und ihr Werk für eine interessierte Öffentlichkeit zu erschließen. Seither ist Inge Müller alles andere als eine weithin unbekannte Autorin. Inzwischen zählt sie - auch wenn das ein später Ruhm ist - zu den wichtigsten deutschsprachigen Nachkriegslyrikerinnen.
Biographisches Neuland musste Sonja Hilzinger also nicht erschließen, der es in ihrem Buch über Inge Müller gelingt, einige wesentliche Lebensetappen deutlicher zu Tage treten zu lassen, während sich für andere Zeitabschnitte, wie die dreißiger Jahre, im Nachlass von Inge Müller keine verwertbaren Hinweise finden. Es gibt auch keine Kommentare der Autorin zu den politischen Verhältnissen der fünfziger Jahre in der DDR, die mit Schauprozessen und den Folgen des XX. Parteitag der KPdSU überschattet waren. Diesem Mangel an Fakten begegnet Hilzinger, in dem sie häufig Vermutungen darüber anstellt, wie es gewesen sein könnte, so dass über weite Strecken eine Verdachtsbiographie entsteht, in der zu häufig der Konjunktiv gebraucht wird.
Nicht zwingend sind auch eine Reihe von Exkursen, die sich in dem Buch finden, weil sich Bezüge zu Inge Müller nur vage oder überhaupt nicht herstellen lassen. So wird in dem Kapitel "Parallele Lebensläufe und Konflikte" Inge Müller in Beziehung zu Autorinnen wie Brigitte Reimann, Irmtraud Morgner und Christa Wolf gebracht, obwohl es zwischen Inge Müller und den genannten keinerlei Kontakte gab. Zu häufig wird Christa Wolf auch an anderen Stellen als Vergleichsperson herangezogen, wobei der Generationenbruch zwischen beiden - Christa Wolf ist entscheidende vier Jahre jünger als Inge Müller - nivelliert wird. Hier hätte man sich - wie auch übrigens bei der Zeittafel am Ende des Buches, die voller Fehler ist, selbst das Sterbedatum wird falsch angegeben - mehr Aufmerksamkeit von Seiten der Autorin und des Lektorats gewünscht.
Sonja Hilzinger
Das Leben fängt heute an. Inge Müller
Aufbau-Verlag
22,90 Euro