"Das Leben, das man kennt, hört auf"

30.10.2006
Die Schriftstellerin und Essayistin Joan Didion schreibt in ihrem Buch über den Tod ihres Mannes John Gregory Dunne. Das ganze Buch ist eine Meditation über das erste, intuitive Wissen, dass der Tod ebenso katastrophal wie alltäglich ist. Didions Buch erzählt von persönlichem Leid und der Möglichkeit seiner Bewältigung in der Trauer, aber auch vom gesellschaftlichen Optimierungsdruck, der auf jenen lastet, die schon genug zu bewältigen haben.
Als die Schriftstellerin und Essayistin Joan Didion, eine der bekanntesten Intellektuellen der USA, im November letzten Jahres den National Book Award erhielt, hat das niemanden gewundert. "The Year of Magical Thinking", das Buch über den Tod ihres Mannes John Gregory Dunne, war Anfang Oktober erschienen und in New York sofort auf begeisterte Resonanz gestoßen. Die nach dem 11. September 2001 vom Tod traumatisierte Stadt erfasste gleichsam intuitiv, dass dies ein wichtiges Buch sein würde.

"Das Leben ändert sich schnell. / Das Leben ändert sich in einem Augenblick. / Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, / das man kennt, hört auf. / Die Frage des Selbstmitleids." Diese paar Zeilen hat Joan Didion ein, zwei oder drei Tage nach dem Tod ihres Mannes, der am Abendbrottisch einen Herzinfarkt erlitt, während sie in der Küche den Salat zubereitete, notiert. So genau weiß sie das nicht mehr, als sie gut neun Monate später, am 4. Oktober 2004, mit ihren Aufzeichnungen beginnt. Das ganze Buch ist eine Meditation über dieses erste, intuitive Wissen, dass der Tod ebenso katastrophal wie alltäglich ist. Er katapultiert den Trauernden aus seiner gewohnten Welt hinaus. Mit einem Schlag befindet er sich im Anderswo: Während die Welt ihren Tagesgeschäften nachgeht, ist für den Trauernden jeder Zusammenhang verloren. Er kommt nicht hinein in die Welt der anderen, als sei mit dem Verstorbenen auch der Schlüssel zu ihr für alle Zeit verschwunden.

Gerade die "Belanglosigkeit der Umstände, in denen das Undenkbare passierte", macht es unglaubwürdig. Und so ist es der erste Reflex jedes vom Tod eines Anderen betroffenen Menschen, diesen Tod zu leugnen. Es war doch alles wie immer, ganz normal! Also kann es nicht geschehen sein. Selten hat man die ungläubige Verzweiflung, die Hinterbliebene erfasst, genauer beschrieben gesehen als hier. Denn der wache Geist, ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion und zum sprachlichen Ausdruck, ist bei Joan Didion auch dann noch am Werk, wenn sie zugeben muss, dass er nicht mehr funktioniert.

Immer wieder bekennt sie, "magische Tricks" anzuwenden, um ih-ren Mann zurückzuholen. Wie sonst lässt sich erklären, dass sie zum Beispiel seine Schuhe nicht hergeben will - er wird sie brauchen, wenn er zurückkommt -, warum sonst stimmte sie einer Organspende nicht zu, wo ihr die Autopsie doch so wichtig war? Denn die Autopsie - so merkte sie irgendwann, insgeheim gehofft zu haben - wird erweisen, dass es sich um einen ganz kleinen Defekt gehandelt hat. Und kleine Defekte kann man doch beheben. Oder nicht?

Jeder, der je mit dem Tod in engeren Kontakt gekommen ist, kennt die unendlichen Wiederholungsschleifen dieses "magischen Denkens". Immer und immer wieder wird das Ereignis durchgespielt, werden Varianten und damit ein glücklicher Ausgang ersonnen, Schuld und Versagen bedacht. Leid ähnelt der Angst. Es macht pa-nisch. Alles gerät durcheinander, das Hormon-, Immun- und Ner-vensystem, kognitive Leistungen werden erheblich beeinträchtigt.

So muss Joan Didion, als sie nach fast einem Jahr endlich den Au-topsiebericht in Händen hält, erkennen, dass er keineswegs wegen der Gleichgültigkeit des Klinikpersonals so lange auf sich warten ließ, sondern weil sie selbst eine falsche Adresse angegeben hatte: statt jener, unter der sie sechzehn Jahre lang mit ihrem Mann auf der Upper East Side von Manhattan zu erreichen war, die jener Wohnung, in der sie nach der Hochzeit 1964 nur fünf Monate lang lebten.

Leid ist der erste Zustand, die Trauer kommt später. Bei Joan Didion wurde der notwendige Schritt hin zu dem, was man euphemistisch Trauerarbeit nennt, unterbrochen. Quintana, die einzige Tochter des Schriftsteller-Paares, lag zum Zeitpunkt der Katastrophe mit einer lebensbedrohlichen Sepsis im Koma. Erst als es der Tochter nach zahlreichen Rückfällen wieder besser zu gehen scheint, beginnt Joan Didion mit dem Schreiben - und also mit der ihr gemäßen Form des Trauerns.

Eigentlich war in dieser Familie, als sie vom Tod getroffen wurde, längst nichts mehr normal. Denn schon die Krankheit der Tochter war ja eine Katastrophe, noch bevor jemand wissen konnte, dass sie tödlich enden würde (Quintana starb nach Fertigstellung des Buches, kurz vor seinem Erscheinen). Dass Joan Didion das übergehen konnte, zeigt, wie stark selbst die Wahrnehmung des Todes von der Erzählstruktur beeinflusst wird, die wir Menschen der Moderne ihm geben.

In den westlichen Industriegesellschaften und besonders in den USA ist der Tod die Anomalie schlechthin. Im Vergleich zu ihm erscheint alles andere als ein Meer des Gewöhnlichen, über das er hinwegfegt wie ein Orkan. Weil er sich der Ideologie des Machbaren widersetzt, wird er zum persönlichen Versagen. Er ist das, was passiert, wenn man nicht richtig aufgepasst hat. "Das Jahr magischen Denkens" erzählt von beidem: von persönlichem Leid und der Möglichkeit seiner Bewältigung in der Trauer, aber auch vom gesellschaftlichen Optimierungsdruck, der auf jenen lastet, die schon genug zu bewältigen haben. Man kann die Lektüre jedem empfehlen, der sich in der westlichen Hemisphäre zu Hause fühlt.

Rezensiert von Meike Feßmann


Joan Didion: Das Jahr magischen Denkens
Aus dem Amerikanischen von Antje Rávic Strubel.
Claassen Verlag, Berlin 2006, 255 Seiten, 18 Euro