Das Leben auf der Festplatte

Von Dirk Asendorpf · 13.09.2006
Der Mensch ist vergesslich, der Computer nicht. Könnte man also seine Erinnerungen nicht einfach auf Festplatte ablegen und bei Bedarf aus der Datenbank zurückholen? Ein kleines Team rund um Gordon Bell arbeitet seit einigen Jahren an der Entwicklung eines solchen Systems. "My-Life-Bits", mein digitales Leben, heißt das von Microsoft finanzierte Forschungsprojekt.
Ein junger Mann steht am Overhead-Projektor und beginnt seinen Vortrag über die Zukunft des Computers. Er trägt einen karierten Schlips und auf der Nase eine dicke Hornbrille. Am Hinterkopf fallen die dunklen Haare zu einem Nackenspoiler ab. Wer einen Link auf der Homepage des Computerveteranen Gordon Bell anklickt, wird an den Anfang der 70er Jahre zurückversetzt. Computer waren kleiderschrankgroße Geräte, Bill Gates ein High School Kid und die Folien, die Gordon Bell damals auf den Overhead-Projektor legte, hatte er noch mit der Hand gemalt.

Der 1972 aufgezeichnete Vortrag ist nur ein winziger Teil des Projekts "My-Life-Bits”. Sein gesamtes Leben will der inzwischen 71-jährige Gordon Bell digitalisieren und archivieren, Forschungsergebnisse, Fachaufsätze, Vorträge und Bücher, die berufliche und private Korrespondenz, die Urlaubsfotos seiner Familie, alle Filme, die er je gesehen hat und die Lieblingsmusik, die er hört.

"Natürlich würde ich nicht behaupten, dass eine Festplatte per se zuverlässiger ist als das Sammeln von Papieren. Aber ich glaube, wenn die Leute all diese Dinge eingescannt hätten, dann ginge es ihnen wie mir und sie könnten selbst nach einem Hurrikan alle wichtigen Dokumente ihres Lebens wiederbekommen."
Gut 100 Gigabyte hat Bell schon zusammengetragen, 90.000 Emails, 100.000 Text- und Internetseiten, 150 Musik-CDs und zahlreiche Videoaufzeichnungen. Außerdem die Mitschnitte aller Telefongespräche, die er über seinen Computer führt. Und vor einigen Monaten hat sich Bell auch noch eine Digitalkamera um den Hals gehängt.

Einmal in der Minute macht es Klick. Zusätzlich wird auch bei jedem Wechsel der Beleuchtung oder Temperatur ein Bild aufgenommen und zusammen mit den Geokoordinaten des Standorts abspeichert. Ein- bis zweitausend Fotos kommen pro Tag zusammen und werden zu einem ruckelnden Film verbunden. Im Schnelldurchlauf kann Gordon Bell jeden Tag in drei bis vier Minuten rekapitulieren. Sein Kollege Jim Gemmell:

"”Was uns bei MyLifeBits am besten gefällt, ist die unglaubliche Freiheit, dass man viele Dinge nicht mehr bewusst in der Erinnerung bewahren muss. Je mehr man automatisch sammelt und je besser man darauf zurückkommen kann, desto mächtiger wird das System.”"

Wie hieß noch der französische Wissenschaftler, der letztes Frühjahr nach dem Kongress in Amsterdam neben mir im Flugzeug saß? Ich weiß noch genau, wie das Restaurant aussah, das mir in Chicago so gut gefallen hat, aber wo war es bloß? Du hast mir versprochen, dass wir am Wochenende in den Zoo gehen! Nein, hab ich nicht! Gordon Bell spult sein Leben einfach zurück und klärt solche Fragen. Er hat auch schon ausgerechnet, wie viel Speicherplatz ein Mensch von der Geburt bis zum Tod benötigt. Ein Terabyte, also 1.000 Gigabyte würden ausreichen. Festplatten dieser Größenordnung werden schon bald zur Grundausstattung eines PCs gehören.

Nina Corda: "Ich wüsste nicht, was ich rausschmeißen sollte. Manchmal, wenn ich mit einem FTP-Programm auf irgendwelche Server gucke, dann denke ich schon, oh mein Gott, was ist das alles für ein Scheiß hier, ich weiß gar nicht mehr, was das ist. Aber ich muss es nicht wegschmeißen, warum?"

Auch Nina Corda hat schon allerhand auf der Festplatte. Sie ist aktive Rugby-Spielerin und kümmert sich um die Website ihres Vereins. Aber auch private Texte und Fotos hebt sie elektronisch auf.

"Da dann Abzüge davon zu machen und mir zu Hause hinzuhängen, das ist eigentlich eher nicht so, weil das kostet ja viel zu viel Geld. Digital ist billig."

Elektronisches Sammeln ist einfach. Aber wie ist es mit dem Wiederfinden? Für Geschriebenes gibt es die Volltextsuche. Gesprochenes kann automatisch erkannt und einigermaßen zuverlässig in Text umgesetzt werden. Selbst Musik lässt sich anhand eines Taktes oder sogar durch Vorsummen identifizieren. Aber was ist mit den Bildern: den Fotos und den bewegten? Jedes einzeln zu beschriften ist viel zu aufwändig. Das war schon in analogen Zeiten so, als die meisten Fotos irgendwann durcheinander in Schuhkartons landeten.

Als digitale Datei besitzen sie zumindest einen Zeitstempel. Doch ein paar Jahre später nützt das wenig. Hauptziel des Selbstversuchs von Gordon Bell ist deshalb die automatische Erzeugung möglichst genauer Informationen, mit denen jede Erinnerung in Sekundenschnelle aus der Datenbank gefischt werden kann. Das Geld dafür stellt Microsoft zur Verfügung. Auch das Pentagon hat unter dem Namen "LifeLog" ein ähnliches Forschungsprogramm begonnen.

Aber wollen wir wirklich das Vergessen vergessen? Was, wenn mir jemand die Festplatte meines Lebens klaut und mich damit erpresst? Soll sie nach dem Tod mit ins Grab wandern? Gehört zu Vergebung und Versöhnung nicht auch, dass sich die Erinnerung irgendwann trübt? Und macht der Zufall das Leben nicht viel spannender als eine perfekte Datenbank? Derartige Fragen gehören nicht zu Bells Forschungsprojekt. Nina Corda hat darüber nachgedacht.

"Was Leute finden, ist ja nicht, was sie finden sollen. Sondern sie finden halt Dinge, die irgendwie rumliegen. Und ich denke, das ist eigentlich auch okay. Ich finde Fragmente zu hinterlassen interessanter, als alles zu archivieren. Und ich hoffe, dass Leute so was auch von mir dann irgendwann finden. Irgendwas, was nicht mit Absicht hinterlassen wurde."