Das Leben als Aneinanderreihung von Zufällen

Von Rainer Zerbst |
Vor fünf Jahren wurde er von der Zeitschrift "Theater heute" zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gekürt: Martin Heckmanns. Seine Stücke sind in der Regel weniger durch eine stringente Handlung als vielmehr durch raffinierte Wortspiele geprägt. Der Sprache gilt Heckmanns' besondere Aufmerksamkeit, wie auch der Titel seines neuesten Stückes nahe legt: "Wörter und Körper" wurde am Staatstheater Stuttgarter uraufgeführt.
Der Stuttgarter Theaterabend beginnt mit einem Text, der gar nicht zum Stück gehört. Es ist ein Prosagedicht, in dem Heckmanns einen Mann am offenen Fenster stehen und über einen verstorbenen Freund reflektieren lässt.

Regisseur Hasko Weber lässt dazu die Schauspieler in Gruppen auf die Bühne kommen und diesen Text rezitieren - jene Schauspieler, die im Anschluss im Stück als die unterschiedlichsten Figuren auftreten werden - als alter Mann, der am Bahnhof einen Kaffee bestellt, als Ehemann, der in einem Stundenhotel raschen Sex mit einer ehemaligen Bekannten hat, als junger Dichter, der über Gedichtanfänge nicht hinauskommt. Hasko Weber gibt mit diesem Beginn gewissermaßen eine Einstimmung auf das eigentliche Stück.

"Dieser Verlust ist ja im Stück ein starkes Motiv, insofern gibt es einen thematischen Vorlauf, aber auch eine Trennung zwischen diesem Vorspiel und dem Stück, wo ich hoffe, dass es uns gelingt, dass man dieses Thema anregt, und dass sich das auch weiter fortsetzt, aber im Stück ganz anders verankert wird."

In der Tat ist das Stück, das dieser Ouvertüre folgt, so etwas wie ein Abgesang auf menschliche Begegnungen. Im Zentrum steht eine Frau um die 40, Lina Sommer; sie ist aus ihrem Dorf in die Stadt gekommen - um, ja um was eigentlich zu finden?

Anna Windmüller spielt diese Lina hinreißend als eine Art weiblicher Parsifal: Naiv lässt sie sich auf die verschiedenen Situationen ein - und verwundert fragt sie sich, was das alles bedeuten soll. So begegnet sie den unterschiedlichsten Gestalten, Gestalten, die mit ihrem Leben kurz zu tun haben, die aber keine feste Beziehung zu ihrem Leben eingehen - und das ist der Kern dieses Stücks: Das Leben als Aneinanderreihung von Zufällen.

Weber: "Ich glaube, sie sucht auch den Grund ihrer Identität, sie sucht nicht nur im landläufigen Sinn einen Auslöser für etwas, was in ihrem Leben Bewegung verursacht hat, sondern sich selbst, gleichzeitig aber auch die anderen. Es ist nie eindeutig festzumachen. Sie ist in Bewegung, sie ist mit Energie unterwegs, die auf andere übertragbar ist, von der andere etwas mitnehmen."

Dabei hat der Autor Martin Heckmanns dem Regisseur die Arbeit alles andere als leicht gemacht. Heckmanns liefert zu diesem als "Wörter und Körper" betitelten Stück gewissermaßen nur die Wörter - von Handlung allenfalls Andeutungen und von Bühnenanweisungen, wo was zu spielen hat, keine Spur. Die Körper zu diesen Wörtern musste sich Regisseur Hasko Weber selbst dazuerfinden. Durch verschiedene Umstellungen von Szenen ist es Weber gelungen, fast so etwas wie ein realistisches Stück zu machen. Lina will sich ein Kleid kaufen, Lina besucht eine entfernte Verwandte, aber nirgends bleibt sie lange. Alltäglichkeiten also, aber Alltäglichkeiten, die bei Heckmanns immer wieder in philosophische Dimensionen umschlagen. Da wird unversehens aus dem Besuch im Modegeschäft die Frage, inwieweit man sich verändern kann oder muss.

Weber: "Man stolpert darüber und denkt: das ist aber jetzt sehr gewichtig, gleichzeitig ist es aber auch banal oder lapidar zu nehmen; das ist für das Probieren eine große Herausforderung gewesen, einen Weg zu finden, wie man das greifen kann, wie das nachvollziehbar wird. Bei der Lektüre ist es ja etwas anderes, als wenn man versucht, es zu spielen."

Freilich: Heckmanns überfrachtet das Stück nicht selten, lässt allzu sehr seiner Formulierungskunst freien Lauf. Der alte Mann erinnert sich plötzlich seiner Jugend, als er beim Volkssturm seinen Freund verlor. Ein anderer glaubt sich vom israelischen Geheimdienst verfolgt und möchte am liebsten die ganze Weltpolitik selbst in die Hand nehmen, ein selbst ernannter Security-Man sorgt auf der Straße dafür, dass die Menschen nicht stehen bleiben. Das sind bisweilen witzige Elaborate, die von den Stuttgarter Schauspielern auch genüsslich ausgekostet werden, werfen aber die Frage auf, was für ein Stück Heckmanns schreiben wollte. Hätte er ein Großstadtpanorama entwerfen wollen, dann wären zu wenig Figuren auf der Bühne, und vor allem zu knapp charakterisiert. Für die Geschichte der Lina Sommer aber bringen solche Streiflichter nichts. Ihre Geschichte aber ist das eigentlich Interessante, hier ergibt sich in der Regie von Hasdko Weber eine Art Traumspiel - fast ein elegisches Großstadtmärchen, denn Lina entpuppt sich bei den unterschiedlichsten Figuren als Katalysator: der junge Dichter kann plötzlich schreiben, die Bedienung im Café kann plötzlich singen - und die Figuren, die zunächst wie plötzliche Zufallsbegegnungen wirkten, bekommen unversehens einen Sinn - nur Lina findet keinen Sinn im Leben, aber das ist vielleicht ja das Schicksal einer guten Fee, die durch ihre bloße Existenz den anderen ein Ziel gibt, das ihr selbst versagt bleibt.