"Das Labyrinth"

Rezensiert von Maike Albath |
Die menschliche Seele ist ein großer, dunkler Kontinent. Heinrich Pollanzy, gestandener Psychiater und Wissenschaftler, renommierter Leiter einer Anstalt in Gugging mit einem "Haus der Künstler", wo Patienten zu Malarbeiten angeregt werden, Bewohner der Wiener Hofburg, leidenschaftlicher Kaffeehausbesucher und Schachspieler, kennt die Untiefen des Wahnsinns. Oft fühlt er sich auf eigenartige Weise von den Phantasien seiner Patienten angezogen - fachliches Interesse scheint sich mit einer emotionalen Affinität zu derlei Zuständen zu mischen.
Ein besonders faszinierender Patient ist Philipp Stourzh, Abkömmling einer alteingesessenen Familie, dessen Kopf bei einem Unfall von einem Projektil aus dem Gewehr seines Vaters durchbohrt wurde. Das Geschoss zu entfernen, hätte das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen. Bis auf einen einmaligen epileptischen Anfall schien es die Gesundheit des jungen Mannes nicht weiter zu beeinträchtigen. Allerdings beginnt er eines Tages, pyromanische Neigungen an den Tag zu legen, weshalb ihn seine Eltern zu Pollanzy in Behandlung geben.

Nach der Therapie bleibt Stourzh, ein großer Kenner der habsburgischen Geschichte, der Anstalt als Pfleger im "Haus der Künstler" erhalten, schließt Freundschaft mit einem fortwährend Feuersbrünste malenden Insassen und schreibt nebenbei an einer Magisterarbeit über den letzten Kaiser der Donaumonarchie. Dem Psychiater kommt die Anstellung Stourzh’ ganz gelegen, weil er auf diese Weise den Fall im Auge behalten kann.

Als eines Nachts plötzlich die Hofburg - die legendäre Residenz der Habsburger - in Flammen aufgeht, fasst Pollanzy einen Verdacht: das Verbrechen scheint Stourzh’ Handschrift zu tragen, außerdem war der ehemalige Patient genau an dem Abend als Statist bei einer Filmszene, die im Redoutensaal des Gebäudes gedreht wurde, zugegen. Vielleicht ist er der Täter?

Gemeinsam mit dem zunächst nüchtern und abgeklärt wirkendem Psychiater begeben wir uns auf die Spurensuche. Doktor Pollanzy scheint zunächst ein verlässlicher Auskunftgeber zu sein: Er tritt als Ich-Erzähler auf, präsentiert uns auf joviale Weise seine Anamnese, schildert die Entwicklung seines Patienten und berichtet dann vom Schauplatz des Geschehens. Der Brand ist äußerst dramatisch, weil nicht nur die Hofreitschule mit den kostbaren Lipizzanerpferden bedroht ist, sondern auch die Bibliothek mit ihren unersetzlichen Originalen und damit das Gedächtnis der habsburgischen Monarchie.

Allerdings sind Pollanzys Aufzeichnungen mit Fußnoten versehen, in denen der Arzt manchmal allzu lauthals seine gute Ortskenntnis betont. Als er dann noch Erkundigungen über Brandstiftungen bei einem pensionierten Oberstaatsanwalt einholt, der wegen einer Schizophreniediagnose ebenfalls sein Patient war, und wenig später von seiner eigenen Neigung zum Alkohol die Rede ist, schöpft man langsam Verdacht.

Nach und nach lösen sich alle Gewissheiten auf: Wer ist hier dem Wahn verfallen, und wer hat wen in der Hand? Im nächsten Teil ergreift dann in der Tat Philipp Stourzh das Wort und liefert seine Version der Geschehnisse ab. Dann ist wieder Pollanzy am Ruder, aber auch ein Schriftsteller, der mit einer Monographie über einen Patienten beschäftigt ist, hat seine Finger im Spiel. Trickreich wird immer wieder die Verfasserschaft unterlaufen, bis der Leser beginnt, seine eigenen Hypothesen zu entwickeln.

Gerhard Roth baut seinen Roman nach dem Prinzip der fortwährenden Verunsicherung auf und deutet schon über den Titel den labyrinthischen Charakter seines Kosmos’ an: Eine fiktionale Welt wird entworfen und nach und nach wieder demontiert. Die Hofburg mit ihren unterirdischen Gängen, zahllosen Treppenhäusern und geheimen Türen bildet die Grundidee in nuce ab: Wie bei einer russischen Puppe steckt in jeder Puppe noch eine Puppe - der Leser wird Teil eines wahnhaften Systems.

Das Spiel mit doppelten Böden, komplexen Fiktionalisierungsstrategien und Zitaten aus exemplarischen Werken (als Spiegelfiguren dienen hier Kafka, Cervantes und Pessoa) zählt spätestens seit Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht (1979) zum Repertoire der postmodernen europäischen Literatur.

Gerhard Roth, 1942 in Graz geboren und mit seinem umfangreichen Werk längst ein Klassiker der österreichischen Literatur, gibt dem formalen Experiment durch die thematische Verankerung eine besondere Note und umkreist die Fragen nach den Zusammenhängen von Kunst und Wahnsinn, der Wahrnehmung von Wirklichkeit und dem Schreiben als Wirklichkeitsentwurf. "Manchmal beneide ich die Wahnsinnigen um den Wahnsinn" lässt Pollanzy verlauten, "einen Wahn, der mich vielleicht das Universum begreifen ließe".

Gerhard Roth: Das Labyrinth
Roman. S. Fischer, Frankfurt/ Main 2005
464 Seiten, 19,90 Euro