"Das kollektive Trauma des Krieges ist quasi überall präsent"

Jörg Nagler im Gespräch mit Britta Bürger · 12.04.2011
Vier Jahre lang hat der "Civil War" gedauert und über 620.000 Menschen das Leben gekostet. Der große Konflikt zwischen den Nord- und Südstaaten war ein Bruderkrieg, der letztlich zur Einheit der Nation führen sollte, ganz versöhnt hat er sie nie.
Britta Bürger: Ein Thema, mit dem sich der Historiker Jörg Nagler seit Langem befasst, er war Kulturreferent an der amerikanischen Botschaft in Bonn, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Washington, sowie Direktor des Kennedy-Hauses in Kiel. Jörg Nagler hat eine vielbeachtete Biografie über Abraham Lincoln geschrieben, und er ist heute Professor an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Und dort begrüße ich Sie jetzt auch, Herr Nagler, schönen guten Morgen!

Jörg Nagler: Guten Morgen!

Bürger: Es war ja ein Krieg zwischen Nord- und Südstaaten, zwischen dem industrialisieren Norden und dem agrarischen Süden. Dort im Süden haben die Kämpfe dann auch überwiegend stattgefunden. Was waren damals die zentralen Konfliktlinien, warum kam es zum Krieg?

Nagler: Das ist ein Konflikt, der zunächst einmal in den 1850er-Jahren jeweils von beiden Seiten so gesehen wird, dass er noch zu einem Kompromiss führen könnte zwischen Nord und Süd. Sie haben richtig gesagt, der Norden industrialisiert sich langsam, er ist dabei, auch eine Massendemokratie zu werden mit sehr modernen Phänomenen, Ausbau der Infrastruktur, Eisenbahnbau, also eine sehr vitale Gesellschaft im Norden, die auch von Einwanderern mitgeprägt wird, auch von deutschen und irischen Einwanderern, während im Süden, wie Sie richtig sagten, ein agrarisches System nach wie vor so existiert, als ob die industrielle Revolution sie nichts angehe, und auch geradezu intentional so verharren möchte. Die Infrastruktur wird kaum ausgebaut, es findet auch wenig Austausch zwischen den Regionen statt. Und diese Konfliktlinien bauen sich langsam auf von einem Kompromiss zu einem zunehmenden Antagonismus, der dann ja in diesem fürchterlichen Krieg enden sollte. Aber wie gesagt, in den 50er-Jahren ahnt natürlich keiner, dass dieses in einem blutigen, chaotischen Krieg enden könnte.

Bürger: Der Civil War wird als Mutter der Weltkriege bezeichnet, als der moderne Volkskrieg. Warum, was war neu an der Kriegsführung?

Nagler: Zunächst einmal ist dieser Krieg ein Krieg, der von Freiwilligen geführt wird. Nur sehr wenige werden von der Wehrpflicht eingezogen, also es ist eine Art der Selbstmobilisierung. Die Zeitgenossen sprechen selbst auch interessanterweise von einem Volkskrieg, a people’s contest, sagt Lincoln selbst. Also offenbar gibt es ein Element, das beide Seiten dazu bringt, sehr vehement für die jeweiligen Ziele einzutreten. Und diese Ziele sind zunächst einmal sehr moderat gesteckt, man sieht die ausbrechenden Südstaatler als Rebellen an, die man wieder in den Unionsverband hineinführen möchte. Dieser Krieg ist auch gleichzeitig ein Krieg, um die Nation zu festigen. Aber das wird erst im Laufe des Krieges klar. Man ging auf beiden Seiten, wie so oft in Weltsituationen wie dieser, von einem kurzen Konflikt aus, und dieser Konflikt geriet dann in einen Verschleißkrieg, der dann vier Jahre dauerte und, wie Sie richtig sagten, über 620.000 Tote, Gefallene forderte. Das würde heute in etwa sechs Millionen gefallene Amerikaner bedeuten, gemessen an der Gesamtbevölkerung dieser Zeit, also 31 Millionen etwa.

Bürger: Die Stellung der Zentralregierung, die war ja dann nach dem Bürgerkrieg deutlich gestärkt. Die Amerikaner bekamen so die erste nationale Einkommenssteuer, die allgemeine Wehrpflicht, vieles, vieles mehr. Aber deshalb wird der Bürgerkrieg jetzt im Rückblick ja nicht zwangsläufig positiv bewertet, schließlich wurde mit dem Sieg des Nordens die Sklaverei abgeschafft, doch die Rassentrennung eingeführt. Wie sehen die Amerikaner diesen Krieg heute?

Nagler: Sehr, sehr unterschiedlich. Ich meine, dieses, wie Sie richtig sagen, das kollektive Trauma des Krieges ist quasi überall präsent. Es gibt kein Thema nach wie vor, das von Publikationen so sehr bearbeitet wird wie der amerikanische Bürgerkrieg. Diese erwähnte Gefallenenzahl spricht natürlich auch schon für die Größendimension. Aber es war ein Bruderkrieg. Also dieses Trauma, Amerikaner kämpfen gegen Amerikaner in einer sehr zunehmenden, brutalisierten Art und Weise, hat diese Spuren hinterlassen. Und natürlich hat dieser Krieg elementare Elemente der amerikanischen Nation angesprochen, des Experimentes, so wie es damals genannt wurde, der Demokratie.

Es ging um das grundsätzliche Recht von Minderheiten. Lincoln formulierte es so, er sagte, darf eine Minderheit in einer Demokratie bestimmen, in welche Richtung wir uns entwickeln sollten? Und damit war für ihn die Frage gestellt, wie weit der Zentralstaat, also die Union, das Recht haben sollte, eben diese Abweichler, die Segregationisten wieder hineinzuholen in die Union. Wobei der Begriff Union zunehmend ersetzt wird von dem Nationsbegriff. Und letztendlich, könnte man die These aufstellen, ist der Bürgerkrieg eigentlich der Einigungskrieg, der dann zur Zementierung der Nation geführt hat. Das heißt also, diese Elemente, die wir haben, einerseits Einheit, wird dann auch abgelöst durch das Element der Freiheit. Und natürlich sind die Rassenprobleme überhaupt nicht gelöst, wir haben zwar die vier Millionen befreiten Sklaven, aber Nord und Süd versöhnen sich quasi auf dem Rücken der Afroamerikaner. Und das führt im Süden dazu, dass wir eben diese enorme Diskriminierung, Rassendiskriminierung haben, gekoppelt mit extremer Gewalt, Lynchjustiz, mit einer Segregation, die dann erst im 20. Jahrhundert im Kontext der Bürgerrechtsbewegung aufgelöst wird. Also ein ganz langwieriger Prozess. Man könnte jetzt etwas überspitzt formulieren: Der Süden hat letztendlich zwar den Krieg verloren, aber war in der Lage, diese restaurativen Kräfte so erfolgreich wieder einzusetzen, dass sie quasi fast auf den Status zurückkamen wie vor dem Krieg.

Bürger: Heute vor 150 Jahren begann der amerikanische Bürgerkrieg. Über seine Nachwirkungen sind wir im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Historiker Jörg Nagler. Lassen Sie uns noch ein bisschen genauer auf den damaligen Präsidenten Abraham Lincoln schauen. Sie haben ihn schon erwähnt, Sie haben ja eine Biografie über ihn geschrieben. Welche Bedeutung hat er bis heute für die amerikanische Bevölkerung?

Nagler: Eine ganz zentrale Bedeutung. Alle Umfragen, die über Persönlichkeiten, amerikanische Persönlichkeiten gestellt werden, lassen Lincoln immer auf Platz eins erscheinen. Also er ist eine zentrale Persönlichkeit, wobei natürlich, wenn Sie es differenzieren, regional er in einigen Regionen des amerikanischen Südens – ich überspitze es einmal – als Kriegsverbrecher angesehen wird. Eine Episode deutet darauf hin: Als 2003 in Richmond, der ehemaligen Hauptstadt der Konföderation, eine Statue errichtet werden soll von Abraham Lincoln, kommt es eben auch zu Gegenreaktionen. Zum Beispiel ein Flugzeug fliegt über diese Statue im Hintergrund mit "sic semper tyrannis", also so sollte es jedem Tyrannen geschehen, also die Anspielung auf die Ermordung Lincolns am 14. April. Also dieses Erbe ist noch sehr lebendig, aber grundsätzlich kann man sagen, dass Lincoln die zentrale Figur ist, die auch jetzt symbolisch für die Einheit der Nation steht. Und Präsident Obama hat ihn ja ganz bewusst herangezogen als Symbolfigur der Versöhnung. Aber natürlich, Lincoln ist eben auch eine Figur, die zusätzlich eben auch nach 1945 nicht nur ja der Präsident war, der die Einheit zustande gebracht hat, sondern eben dann auch die Befreiung der Sklaven umgesetzt hat. Das heißt, wir haben eine Interpretationsänderung.

Bürger: Ist ja interessant, dass fast alle amerikanischen Präsidenten unterschiedlichster politischer Couleur sich gern auf Lincoln berufen haben. War er aus der Sicht des Historikers jetzt tatsächlich der einflussreichste Präsident, oder hat man ihn einfach extrem mythologisiert?

Nagler: Ich glaube, beides. Die Aura Lincolns wird von allen Politikern, wie Sie richtig sagen, immer wieder herangezogen, und zwar von aller Couleur. Also Lincoln hat dort einen Status erreicht, wo er nicht mehr einer Partei zugehörig gestellt werden kann, sondern er ist in der Lage, diese Parteien zu überwinden. Aber man hat ihn natürlich stark mythologisiert, und wenn Sie sich die zentrale Gedenkstätte ansehen auf der Mall in Washington D. C., so thront ja dieser Riesenpräsident dort über dem ganzen Ensemble dieser Institution an der Mall. Also er ist ein Präsident, der über den Parteien stehen soll, und deswegen hat ihn Obama eben auch symbolträchtig eingesetzt in seinem Wahlkampf.

Bürger: Kaum ein anderes Geschichtsthema hat sich in so vielen Romanen und Filmen niedergeschlagen wie der Südstaatenmythos. Ich sage nur "Vom Winde verweht" oder "Fackeln im Sturm". Welches Buch oder welcher Film, Herr Nagler, hat Sie nachhaltig beeindruckt?

Nagler: Als Film ist für mich "Glory" ein sehr bewundernswerter Film, der zum ersten Mal also den Einsatz von afroamerikanischen Soldaten thematisiert und auch sehr gut dokumentiert, wie Afroamerikaner behandelt wurden, wie sie eben diesen Krieg geführt haben und wie nach wie vor dieser extreme Rassismus im Krieg selbst eben auch noch existent war. Also dieser Film hat mich doch sehr beeindruckt und ist auch in der Filmkritik sehr positiv bewertet worden.

Bürger: Wie wird heute, 150 Jahre nach Ausbruch des amerikanischen Civil War, in den USA an dieses Thema erinnert, an dieses Datum?

Nagler: Diese Aktivitäten, von denen heute, also am 12. April, die heute stattfinden, dokumentieren eindrücklich, dass eben das Bild des Bürgerkrieges sehr viel differenzierter ist. Wobei, man muss natürlich unterscheiden, einerseits gibt es natürlich diese nach wie vor großen Gruppen von Reenactments, das heißt, Bürgerkriegsschlachten werden nachgestellt. Aber der 12. April ist jetzt also ein sehr neues Phänomen geworden, weil er eben sehr viel differenzierter auf die Ursachen des Krieges eingeht. Die Ursachen werden jetzt primär eben in dem System der Sklaverei gesehen, die im Zentrum der Auseinandersetzung stand, und das hatten wir vor einigen Jahren noch nicht so. Also dort ist doch eine Verlagerung, eine Verschiebung der Thematik passiert, also hin zu einer ganz realistischen Art der Interpretation der Ursachen des Bürgerkrieges.

Bürger: Kriegstrauma und Katalysator für die Entwicklung der USA zur Weltmacht – der Historiker Jörg Nagler über den amerikanischen Bürgerkrieg. Ich danke Ihnen, Herr Nagler, für das Gespräch!

Nagler: Ich danke Ihnen!
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