Das Kirchenlied war ein Exportschlager

Hermann Kurzke im Gespräch mit Stephan Karkowsky |
„Es ist ein Ros entsprungen“, „Stille Nacht“ oder „In dulci jubilo“. Deutschland hat wahrscheinlich mehr Weihnachtslieder als jedes andere Land der Welt. Doch was singen wir da eigentlich?
Stephan Karkowsky: Heute Abend unter dem Tannenbaum sind wieder echte Gedächtnisleistungen gefragt. Wie ging noch mal die vierte Strophe von „Alle Jahre wieder“? Die christliche Familie singt meist nur zu Heiligabend. Aber was singt sie da eigentlich, wo kommen diese Lieder her und was bedeuten sie? Das besprechen wir mit dem Mainzer Germanisten und katholischen Theologen Hermann Kurzke. Guten Morgen!

Hermann Kurzke: Guten Morgen!

Karkowsky: Herr Kurzke, klären Sie uns auf! Wann sind die bekanntesten Weihnachtslieder entstanden, seit wann also werden sie gesungen?

Kurzke: Das beginnt eigentlich im Spätmittelalter mit der deutschen Mystik, und dann ist ein Höhepunkt die Barockzeit, das 17. Jahrhundert. Aber das heutige bürgerliche Weihnachten ist eigentlich ein Produkt des 19. Jahrhunderts, des Biedermeier, der Weihnachtsbaum, unter dem man Lieder singt, und es gibt auch sehr viele Lieder wie „Alle Jahre wieder“ zum Beispiel, die aus dem 19. Jahrhundert erst sind.

Karkowsky: Herr Kurzke, sind denn die meisten christlichen Weihnachtslieder, die weltweit gesungen werden, deutsche Lieder?

Kurzke: Ich glaube, dass Deutschland da schon eine bedeutende Funktion hat, wahrscheinlich eine führende. Das hängt auch damit zusammen, dass generell im protestantischen Einflussgebiet Deutschland und das deutsche Kirchenlied, das deutsche geistliche Lied eine weltweit führende Rolle hat.

Karkowsky: Ist das Weihnachtslied eine protestantische Erfindung?

Kurzke: Das zwar nicht, im Gegenteil sind auch die heute im evangelischen Gesangbuch stehenden Weihnachtslieder …, sind mindestens die Hälfte davon katholischer Herkunft. Aber die Verbreitungsgeschichte ist evangelisch. Das evangelische Kirchenlied war ein Exportschlager. Die Katholiken waren eigentlich provinziell und haben nicht nach außen gewirkt.

Karkowsky: Fangen wir mal mit einem Lied an, das mir als ehemaligem Protestanten gar nicht bekannt war: „Oh Heiland, reiß den Himmel auf“. In der Version des Tölzer Knabenchors klingt das so: [Einspielung]. „Oh Heiland, reiß den Himmel auf“, da heißt es am Schluss noch: „Hie leiden wir die größte Not, vor Augen steht der ewig Tod, ach komm, führ uns mit starker Hand vom Elend zu dem Vaterland.“ Herr Kurzke, lässt sich das als politische Aussage missverstehen?

Kurzke: Ich hoffe nicht. Es kann manchmal eine politische Not sein, aber hier gemeint ist hier schon die religiöse Not, die Unerlöstheit, der Jammer überhaupt der Welt, in dem so vieles schiefgeht, in der man eigentlich nie alles so macht, wie es gemacht werden müsste, in der man nie alle Not lindern kann, und einfach die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen, die die meisten heute völlig vergessen haben. Sie wissen gar nicht, dass ihr Unglück eigentlich nicht gelindert werden kann mit den Mitteln, die wir haben, nicht mit Medikamenten und nicht mit Waren.

Die, die das singen, das sind die Patriarchen des Alten Testaments. Es heißt in einer Überschrift „Gesang der Altväter in der Vorhöll“, und die muss man sich vorstellen, die Patriarchen der Alten Kirche, also Jakob und so weiter und Abraham, die singen: „Oh Heiland, komm endlich, reiß die Himmel auf und komm endlich runter!“ Das ist ein Lied der Messias-Sehnsucht.

Karkowsky: Nehmen wir mal ein bekannteres, „Es ist ein Ros entsprungen“. Da haben wir uns als pubertär kichernde Konfirmanden natürlich immer gefragt, ist hier die Rose gemeint oder das Pferd, das Ross?

Kurzke: Ja, es ist natürlich eine Rose gemeint. Das ist ein Rätsellied, da wird in der ersten Strophe ein Rätsel gestellt: „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart, wie uns die Alten sungen“ – das sind die Alten, das ist das Alte Testament –, „aus Jesse kam die Art“ – Jesse ist der Vater des Königs David.

Dann weiß man schon ein bisschen, wo das herkommt, das ist eine Anspielung auf eine Prophezeiung des Alten Testaments im Buch Jesajas. Und von dieser Rose auch, die aus der Wurzel entsprungen ist, wird gesagt, sie hätte ein Blümlein gebracht. Und das ist das Rätsel, was ist das? Und dann kommt in der Strophe zwei die Auflösung, da heißt es: „Das Röslein, das ich meine, davon Jesaja sagt, ist Maria die Reine, die uns das Blümlein bracht.“ Und dann ist noch die Frage, was ist das Blümlein? „Aus Gottes ewgem Rat hat sie ein Kind geboren und blieb ein reine Magd.“ So ist der alte katholische Text.

Karkowsky: Ja, wollte ich fragen: Stimmt es denn, dass Protestanten und Katholiken das Lied jeweils anders singen?

Kurzke: Ja, bis heute. Im evangelischen Gesangbuch steht bis heute eine andere Lösung des Rätsels. Es ist klar, vom Ursprung des Lieds im 16. Jahrhundert ist die Rose Maria. „Das Röslein, das ich meine, davon Jesaja sagt, ist Maria“, heißt es ganz klar. Und evangelisch steht heute als zweite Strophe: „Das Blümlein, das ich meine, davon Jesaja sagt, hat uns gebracht alleine Marie, die reine Magd.“ Da ist das Blümlein natürlich dann Jesus und die ganze Lösung des Rätsels wird von Maria auf Jesus verschoben. Typisch evangelisch.

Karkowsky: Ja! Kommen wir zu dem wohl besinnlichsten Weihnachtslied, „Stille Nacht, heilige Nacht“, das treibt auch hartgesottenen Atheisten die Tränen in die Augen. Es gilt als das bekannteste Weihnachtslied der Welt, ist sozusagen ein Smash-Hit. Wo kommt es her?

Kurzke: Das ist 1818 entstanden im Salzburger Land, ist also ein Produkt des 19. Jahrhunderts und eigentlich ein Produkt der josephinischen Vulgäraufklärung. Das erkennt man an Strophen, die heute verloren gegangen sind, in der vierten hieß es zum Beispiel: „Stille Nacht“ und so weiter, wo „als Bruder huldvoll umschloss Jesus die Völker der Welt“. Da war also mal eine Strophe drin zur Völkerversöhnung, typisch Aufklärung. Und geblieben sind nur die drei sozusagen sentimentalen, idyllischen Strophen von dem schlafenden Knaben und dem Paar drum herum und den Hirten.