Das Kalkül

Von Verena Lutz |
Wieso investiert eine amerikanische Investmentbank in alte deutsche Werkswohnungen? Ganz einfach: Morgan Stanley und die deutsche Corpus-Immobiliengruppe (Gesellschafter sind drei Sparkassen) rechnen damit, dass sich die deutsche Wirtschaft langsam erholt und die früheren Kruppianer-Unterkünfte bald mehr wert sein werden als heute. Politiker und Immobilienexperten warnen davor, dass die neuen Eigentümer einen maximalen Gewinn aus ihrer Investition ziehen wollen. Eine Sanierung und Instandhaltung der Werkswohnungen passe nicht in dieses Konzept...
Die ehemaligen Werkswohnungen sind vor allem dort, wo es früher Zechen und Stahlöfen gab: in Duisburg 20.000, in Essen 11.000, in Oberhausen 2.800 und so weiter. Reinhilde Borchert wohnt in einer ThyssenKrupp-Siedlung in Essen-Gerschede.

Reinhilde Borchert: "Wir haben es erfahren erst mal durch die Zeitung, da lief ja ne ganze Menge. Und, ja, dann haben die KruppThyssen uns angeschrieben, dass das halt der andere Name ist, aber das sich nichts ändert, dass die Betreuung so bleibt, wie sie war und das alles so bleibt, wie es vorher war. "

Verkauft wurden die 48.000 Wohnungen an ein Bankenkonsortium: Auf der einen Seite der große Geldgeber, die US-amerikanische Investmentbank Morgan Stanley. Auf der anderen die deutsche Corpus, Immobiliengruppe. Hinter ihr stehen die drei Sparkassen Düsseldorf, Köln und Frankfurt. Eine bewährte amerikanisch-deutsche Partnerschaft. Die einen geben vor allem das Geld, die anderen kennen sich vor Ort aus, sagt Ulrich Dahl. Der Immobilienexperte arbeitet bei Engel & Völkers in Düsseldorf – einer der großen Makler an Rhein und Ruhr.

Ulrich Dahl: "Diese Investoren haben zwar das Knowhow, was Kapital angeht, aber ihnen fehlt sicherlich die Kenntnis vor Ort. Das heißt also, wie muss ich überhaupt mit Mietern umgehen? Welche Rechte haben Mieter? Was muss ich mit einer Kommune abstimmen, wenn ich über einen größeren Immobilienbestand in einem Stadtteil beispielsweise verfüge? Was sind planungsrechtliche Auflagen in Deutschland? Und insofern macht es für ein Unternehmen wie Morgan Stanley Sinn, einen deutschen Partner zu suchen. Und in diesem Falle ist es ja nicht die erste Transaktion, die diese beiden Partner gemeinsam gemacht haben, sondern sie sind ja schon an anderen Stellen, beispielsweise bei Immobilien der Telekom, zusammen aufgetreten. Und das ist dann sicherlich eine Partnerschaft, die sich bewährt hat, und jetzt – logisch – entsprechend fortgesetzt und ausgeweitet wird. "

Die neuen Eigentümer machten aus ThyssenKrupp Immobilien die neue Immeo Wohnen GmbH.

Annerose Fuchs: "Angeblich soll das ja so weitergehen wie bisher. Unser Wohnungsverwalter ist geblieben. "

Annerose Fuchs wohnt seit 42 Jahren in Essen-Gerschede und ist skeptisch.

Annerose Fuchs: "Na, wo kriegen wir keine Mieterhöhungen? Wo gibt es nicht mehr Preise? Wo? Nirgendwo! "

Die letzte Mieterhöhung liegt noch nicht lange zurück, denn ein Teil der ThyssenKrupp-Siedlung ist frisch renoviert. Die kleinen Häuser wurden Anfang der 40er-Jahre für die Kruppschen Stahlarbeiter gebaut und waren grau und hässlich geworden. Jetzt wirken sie steril. Alles sauber verputzt, glatte weiße Fassaden – kein leuchtendes Weiß, sondern irgendwie mattiert. Die Häuser sehen aus wie mit Deckweiß überzogen und getrocknet – wie auf einer Hochzeitstorte. Eine Straße weiter ist noch alles so wie seit Jahrzehnten, das altbekannte Graubraun. Nur diese Häuser sollten verkauft werden, dachte Ingo Jakobi. Ein Schreiben, dass auch die Häuser in seiner Straße dazu gehören, habe er nicht bekommen, erzählt er. Er war überrascht.

Ingo Jakobi: "Dass es verkauft wurde, habe ich eben nur erfahren, dass es in der Zeitung ja war. Und diese Straße war ja gar nicht dafür. Das waren ja drüber Tangerbucht und Südseestraße, und Samoastraße, hier dieses Viertel, noch gar nicht. "

Er würde seine Wohnung gerne kaufen. Marika Muratitu wäre es lieber, die Häuser blieben in einer Hand. Sie wohnt in einer nicht modernisierten Wohnung und heizt - auch das gibt es noch - mit dem Kohleofen! Sie ist froh darüber! Ihre 65-Quadratmeter-Wohnung könnte sie sich sonst nicht leisten. 325 Euro Miete zahlt sie.

Marika Muratitu: "Ich hab erst mal Angst, dass die die Miete erhöhen, und zweitens hab ich Angst, dass die Wohnungen auch verkauft werden und wir irgendwann raus müssen. "

ThyssenKrupp hat vorgesorgt. Der neue Eigentümer Immeo darf nach zehn Jahren gerade 30 Prozent der Wohnungen verkaufen. Und in den ersten zwei Jahren, also jetzt, haben die Mieter das Vorkaufsrecht. Auch Kündigungen und drastische Mieterhöhungen verhindert das Kleingedruckte im Kaufvertrag, sagt Bettina Benner von Immeo Wohnen, ehemals ThyssenKrupp Immobilien.

Bettina Benner: "Es wird sicherlich so sein, dass wir weiter Vermietung ganz groß schreiben, keine Frage, das ist das Kerngeschäft. Es wird sicherlich auch über eine Privatisierung nachgedacht. Aber in welcher Größenordnung, ist noch nicht, also, definitiv beschlossen. Aber selbstverständlich ist es dann so, dass die Mieter vorrangig angesprochen werden. Das ist aber auch ein altes Geschäft bei ThyssenKrupp Wohnimmobilien gewesen. Auch da haben wir zum Teil privatisiert und selbstverständlich vorrangig die Mieter angesprochen. "

Es hat sich nichts geändert, ist überall zu hören. Für die Mieter und auch für die Mitarbeiter der Immobilienfirma. Nur dass die ehemaligen Kruppianer ihr blaues ThyssenKrupp-Logo auf Briefbögen und Internetseiten gerade gegen das rote "Immeo Wohnen" austauschen. Das sei aufwendig, sagt Bettina Benner, die auch schon die Fusion von Thyssen und Krupp vor sechs Jahren mitgemacht hat. Der Verkauf von ThyssenKrupp Immobilien ist seit Februar amtlich. Bisher hat Bettina Benner davon kaum etwas gemerkt.

Bettina Benner: "Der Firmensitz ist der gleiche geblieben, also, wir sitzen nach wie vor in Essen. Die Mitarbeiter, mit denen ich hier ständig zu tun habe, sind die gleichen geblieben. Die ganz normale Tagesarbeit hat sich überhaupt nicht verändert. Das einzige, was sich verändert hat, ist, dass wir eine neue Geschäftsführung haben, bestehend aus vier Leuten, zwei Herrschaften von Corpus, zwei Herren von Morgan Stanley. Aber auch das ist so, dass es nach vor in dem alt bewährten Muster abläuft. Wir haben Geschäftsführungssitzungen, wir haben Sitzungen mit den leitenden Mitarbeitern. "
Entlassungen gab es bislang nicht. Und Morgan Stanley hat angekündigt, den Wohnungsbestand noch vergrößern zu wollen. Um möglichen Ängsten der Mieter zu begegnen, hat Bettina Benner schon im vergangenen August eine Hotline mit einer kostenlosen 0800er-Nummer eingerichtet.

Bettina Benner: "Die dann bis abends um 18 Uhr und morgens ab 7 Uhr besetzt war. Damals waren es dann Frage eben: Stimmt das wirklich? Werden sie verkauft? Was steckt dahinter? In der ersten Woche des möglichen Verkaufs gab es an einem Tag mal so round about 60 Anrufe, das war sehr viel. Und das ebbte dann zusehend ab. Und wir haben also heute, die Hotline läuft immer noch, einen Rücklauf von einem Anruf pro Woche. "

Und auch weiterhin genießen Mieter ab ihrem 65. Geburtstag einen lebenslangen Kündigungsschutz. Modernisierung im großen Stil, die Mieterhöhungen zur Folge hätte, sei nicht geplant, sondern – wie bisher - immer ein bisschen. Der Immobilienexperte Ulrich Dahl rechnet jedoch mit hohen Investitionen durch den neuen Besitzer.

Ulrich Dahl: "Dadurch dass neues Kapital in diese Immobilien fließt, werden sicherlich auch die meisten dieser Immobilien eine Aufwertung erfahren. Das heißt, es wird dort etwas passieren, was, wenn man sich das gerade bei den Wohnungsbeständen der Industriekonzerne hier im Ruhrgebiet angeschaut hat, bei erheblichen Teilen unterlassen worden ist in den vergangenen Jahrzehnten. "

Kritik geisterte durch die Presse, als der Verkauf im Februar dingfest war. Angesichts des prognostizierten Wirtschaftswachstums in Deutschland rechnen die Käufer der ThyssenKrupp-Wohnungen auch mit einer Erholung des Immobilienmarktes. Kritische Stimmen vergleichen den Deal deshalb mit einem Aktienhandel: Kaufen, wenn die Preise am Boden sind, und verkaufen, wenn sich der Markt erholt hat. Für das Interesse des amerikanischen Investmentriesen Morgan Stanley habe es aber gute Gründe gegeben, glaubt Ulrich Dahl.

Ulrich Dahl: "Wenn Sie sich die Immobilienmärkte in den USA oder in Großbritannien ansehen, dann haben wir dort ein ganz anderes Preisgefüge als hier gerade in Deutschland. Das heißt, die Verzinsung des dort eingesetzten Kapitals ist sehr viel niedriger. Und Renditen oberhalb von fünf Prozent sind für aus dem amerikanischen, aus dem britischen Bereich kommende Unternehmen eher unbekannt. Das heißt eine Anlage von Kapital hier in Deutschland ist für derartige Investoren hoch interessant. "

Zudem gebe es in Deutschland viel weniger Mieterwechsel als z.B. in den USA. Wir hängen stärker an unserer Scholle, sagt Ulrich Dahl. Für die ehemaligen Arbeiterwohnungen gelte das im Besonderen. Schon deshalb rechne sich der stolze Kaufpreis von 2,1 Milliarden. Im Schnitt kostete damit jede Wohnung knapp 44.000 Euro.

Ulrich Dahl: "In einer mittelfristigen Betrachtung war es sicherlich ein gutes Geschäft, weil sie haben einen Wohnungsbestand erworben, der wahrscheinlich nicht top Ansprüchen genügt, aber der über ein Mieterklientel verfügt, die langfristige Mietverträge haben. Das heißt also, es ist auch nicht zu befürchten, dass es große Fluktuation gibt, dass es sich um Problemmieter handelt, weil vielfach diese Mieter ja auch aus alten Arbeitsverhältnissen mit ThyssenKrupp hervorgegangen sind. Und insofern gibt es dort eine hohe Identifikation der Mieter mit ihren Immobilien bzw. mit diesen Standorten. "

Einfach so weiterverkaufen, um schnelles Geld zu machen, lohne nicht. Mit einem Aktienhandel könne man dieses Geschäft nicht vergleichen.

Ulrich Dahl: "Es wird sicherlich investiert, einfach um es dann auch wieder gewinnbringend verwerten zu können. Denn die Preise, die für derartige Immobilienpakete gezahlt worden sind, die lassen sich nicht in einem Weiterverkauf, ohne etwas an diesen Immobilien gemacht zu haben, auf einmal deutlich erhöhen. Und gerade die angelsächsischen Käufer, die dort aufgetreten sind, haben schon höhere Renditeanforderungen, und das heißt, es muss etwas mit diesen Immobilien passieren. "

Und es wird sich vermutlich auch einiges ändern, aber nicht von heute auf morgen, sagt Stephane Theuriau. Er leitet den Bereich Europäische Immobilien bei Morgan Stanley. Der neue Eigentümer der Krupp-Immobilien möchte die Mieter gerne behalten und sich weiter vergrößern. Wohnungsbestände in Größenordnungen wie die von ThyssenKrupp seien weltweit einzigartig - und profitabel, wenn man einen langen Atem hat und viel investieren möchte.

Stephane Theuriau: "Das Attraktive an solchen Verkäufen, wie es sie zurzeit in Deutschland gibt, ist, dass Sie ein sehr effizientes, professionelles Führungsteam bilden können, um dann das ganze Paket aus einer Hand zu managen - wenn sie die nötige Größe haben! Für eine Handvoll Wohnungen lohnt das nicht. Aber für Zehntausende Wohnungen können Sie z.B. interessante Serviceleistungen für die Mieter anbieten – und auch interessante Tätigkeiten für die Mitarbeiter, weil sie vielfältige Aufgaben haben. "

Als schnelle Geldvermehrungsmaschine sieht Morgan Stanley das Immobilienpaket offenbar nicht. Alle Aktivitäten, z.B. die Fortsetzung von Instandhaltungsarbeiten, sind langfristig geplant. Stephane Theuriau betont, man wolle zufriedene Mieter, damit sie in den Wohnungen blieben. Eine Komplett-Privatisierung sei nicht geplant. Dafür gebe es in Deutschland auch nur wenige Interessenten.

Stephane Theuriau: "Im Moment kann man für wirklich wenig Geld vom Mieter zum Eigentümer werden. Und wir denken darüber nach, das auch anzubieten. Aber es ist wichtig zu wissen: Wir bieten es an, aber es ist kein Muss! Sie können auch Mieter bleiben! "

Das werden die meisten wohl auch. In Deutschland leben erst 42 Prozent der Wohnungsbewohner in Eigentumswohnungen – Schlusslicht in Europa. Im Ruhrgebiet sind es sogar nur 30 Prozent. Als nach dem Krieg alles zerstört war, musste die Industrie Wohnungen bauen, um ihre dringend benötigten Arbeiter unterzubringen.

Stephane Theuriau: "In Deutschland machte es bislang keinen Sinn, diese Häuser zu verkaufen. Aber jetzt geht es der Wirtschaft nicht besonders gut, die Kommunen brauchen Geld, die Firmen auch. Also hatten wir jetzt die Möglichkeit, diese Immobilien zu kaufen! "

E.ON Ruhrgas, ThyssenKrupp, RWE – alle haben sich von ihrer Immobiliensparte getrennt. Ein großer Ruhrgebietskonzern bildet da die Ausnahme: die ehemalige Ruhrkohle AG und heutige RAG macht seit Jahren gute Gewinne mit ihren Immobilien und hat die Sparte neben Chemie und Energie zu ihrem dritten Kernbereich gemacht. Mit einem besonderen Konzept, erläutert Hermann Marth, Chef der RAG Immobilien.

Hermann Marth: "Wir haben ja in neuerer Zeit uns das Thema Stadtentwicklung/Stadtteilentwicklung vor die Brust genommen. Wir arbeiten daran, dass die Sinnzusammenhänge Wohnen, Arbeiten, Leben wieder näher zusammen gebracht werden. Und wir haben natürlich auch die Flächenpotentiale, auf denen das verwirklicht werden kann. Wenn Sie sich vorstellen, dass wir alleine im Ruhrgebiet um die 16.000 Hektar Fläche haben, von denen wir im Moment um die 1.000 Hektar bearbeiten für Folgenutzung. "

Eine geniale Kombination: Der Konzernbereich Bergbau wird seine Altlasten los, z.B. alte Zechengelände, und der Konzernbereich Immobilien recycelt sie. Alte Industriebrachen werden zu Wohnflächen umgewandelt und bebaut, und zwar in Absprache mit den Kommunen. Davon profitieren beide Seiten: Die Städte können ihre toten Winkel neu beleben, und die RAG nutzt den Strukturwandel für sichere Investitionen. Public Private Partnership ist das Stichwort – die Zusammenarbeit von öffentlichen und privaten Institutionen. Oder anders gesagt: Stadtplanung mit Unterstützung der privaten Industrie.

Hermann Marth: "Privat Public Partnership ist für uns kein Fremdwort. Wir praktizieren das gerade in den Bereichen Wohnimmobilien und Flächenentwicklung seit vielen, vielen Jahren. "

Seit in den 60er-Jahren im Ruhrgebiet der Strukturwandel begann, hat die RAG über 5.000 Hektar Fläche freigegeben, sagt Hermann Marth.

Hermann Marth: "Wir haben unsere Wohnimmobilien dezentral in neun Gesellschaften organisiert, und in drei dieser Gesellschaften sind die Kommunen sogar Anteilseigner. Das heißt, hier ziehen wir auch, was die Entwicklung von Stadtteilen, Quartiersentwicklungen angeht, an einem Strick, haben die gleichen Ziele. "

Die RAG ist im Ruhrgebiet so verwurzelt, dass sie fast wie eine öffentliche Institution wahrgenommen wird. Zurzeit bewirtschaftet die RAG Immobilien etwa 70.000 Wohnungen. Und es sollen neue hinzukommen. Investitionsvolumen: 400 Mio. Euro in den nächsten Jahren.
ThyssenKrupp ist im Ruhrgebiet ähnlich verwurzelt und hätte wohl auch ähnliche Voraussetzungen gehabt. Doch letztlich ist es eine Willensentscheidung: ThyssenKrupp hat sich für die Kernbereiche Stahl, Industriegüter und Dienstleistungen entschieden – und eben nicht für die gewinnträchtigen, aber aufwendigen Immobilien.