Das jüdische Kaddisch-Gebet

Leben, Tod und Inspiration

Detail eines Grabsteins auf einem jüdischen Friedhof: Zu sehen ist ein steinerner Davidstern, im Hintergrund Zweige eines Baumes.
Ein Grabstein auf dem orthodoxen jüdischen Friedhof in der Csörsz utca in Budapest, Ungarn. © imago/EST&OST
Von Gerald Beyrodt · 16.11.2018
Das Kaddisch ist ein Gotteslob. Juden sprechen es aber, wenn ein naher Verwandter gestorben ist, also wenn sie trauern. Dieser Widerspruch hat immer wieder Künstler inspiriert, darunter Alan Ginsberg und Leonard Cohen.
"Sein großer Name werde erhoben und geheiligt ..."
"Amén"
"... in der Welt, die er nach seinem Willen geschaffen hat."
Wenn ein naher Verwandter stirbt, der Vater, die Mutter, sollen Juden ein Jahr lang in der Synagoge das Kaddisch sprechen, ebenso in späteren Jahren am Todestag. Dass Juden das Kaddisch als Totengebet verwenden, hat Dichter, Schriftsteller und Musiker immer wieder inspiriert.
"Gelobt und gepriesen, verherrlicht und erhoben, erhöht und gefeiert, hoch erhoben und gerühmt sei der Name des Heiligen, gelobt sei Er ..."
Wenn die Eltern sterben, beten ihre Kinder das Kaddisch: traditionell nur die Söhne, heutzutage immer öfter auch die Töchter. Selbst in der Orthodoxie, wo im Gottesdienst keine Gleichberechtigung herrscht, können Frauen das manchmal durchsetzen.
"Erhaben über allem Lob und Gesang, Preisung und Trostwollen, die in der Welt gesprochen werden, und sprechet: Amén."

Wie kann man Gott loben angesichts des Todes?

Das Kaddisch ist ein Gotteslob. Für Trauernde heißt das: Ausgerechnet im schwierigsten Moment sollen sie Gott loben. Für Dichter, Autoren und Komponisten immer wieder eine Provokation – und ein Anstoß. Wie kann man Gott loben angesichts des Todes?
Und da das Kaddisch auch ein Totengebet zur Schoah geworden ist, stellt sich auch die Frage: Wie kann man Gott loben angesichts der Gräuel von Auschwitz? Leonard Bernsteins Dritte Symphonie beginnt mit der Ankündigung eines Sprechers, er werde jetzt "sein eigenes Kaddisch" vortragen. Das gerät zur Anklage Gottes:
"A Lord of hosts, I call you to account. You let this happen, Lord of hosts. You with your manner, your pillow of fire. You ask for faith. Where is your own? Why have you taken away your rainbow, that tiny bow tied around your finger? To remind you never to forget your promise."
Wenn Gott seinen Regenbogen wegnimmt, heißt das: Er hat den Bund aufgekündigt - oder er hat den Bund schlicht vergessen, wie Bernsteins Text suggeriert.

Das Kaddisch ist nie nur traurig oder fröhlich

In der Synagoge oder im Lehrhaus wird das Kaddisch unterschiedlich eingesetzt, als Gebet nach gemeinsamen Textdiskussionen, die Juden kurz und knapp als "Tora lernen" bezeichnen, und auch als Zäsur im jüdischen Gottesdienst. Wann genau man welches Kaddisch verwendet, ist, wie vieles im Judentum, streng geregelt. Dazu Rabbiner Nils Ederberg aus Berlin: "Wir haben, mindestens im aschkenasischen Gottesdienst, sechs Varianten."
Aschkenasim sind Juden mit Wurzeln in Deutschland und Osteuropa. "Das war das Gebet, das traditionell am Ende von jedem Gottesdienst stand. Jeder jüdische Gottesdienst hat gegen Ende ein ganzes Kaddisch, dann gibt es das sogenannte halbe Kaddisch, Chazi Kaddisch, und das ist eine Art Komma zwischen einzelnen Gottesdienstteilen. So dass man sagen kann: Wir haben Komma, halbes Kaddisch, und Punkt, das ganze Kaddisch."
Zwischen den einzelnen Themenblöcken des jüdischen Gottesdienstes steht jeweils ein gesungenes Kaddisch, in einer kurzen Version. Es nennt sich halbes Kaddisch oder Chazi Kaddisch. Ein solches halbes Kaddisch hat der Nicht-Jude Maurice Ravel vertont.
Nicht jedes Kaddisch klingt so ernst und getragen wie dieses. Aber Ravel hat sich an den Melodiemustern der hohen Feiertage orientiert, wenn ernste Töne in der Synagoge dominieren. Schließlich ist von Gottes Gericht die Rede. Gott entscheidet nach jüdischer Vorstellung am Neujahrsfest Rosch ha-Schana und am Versöhnungstag Jom Kippur, wer im kommenden Jahr leben wird.
Doch das Kaddisch kann auch völlig anders klingen: fröhlich und lebensbejahend. Das Kaddisch ist nie nur traurig oder fröhlich. Das Kaddisch ist immer beides. Überhaupt gibt es im Judentum kein Freudenfest ohne ein bisschen Trauer und keinen Trauertag ohne einen Funken Freude oder Optimismus. Ein Gebet wie zartbittere Schokolade. Diese Ambivalenz macht ganz sicher einen großen Teil der Faszination und der Provokation des Kaddisch aus.
"Wenn ich an meine eigene Erfahrung denke, ist da sehr viel, was mit mir passiert ist. Da ist zum einen das Bedürfnis, mit meiner Trauer Formen zu finden, und das Glück, im Judentum Formen zu finden, die hilfreich sind."

"Gott soll uns Frieden bringen"

Das Kaddisch ist in einer Sprache geschrieben, die früher jeder Jude verstanden hat und heute kaum mehr einer, nämlich Aramäisch. Aramäisch sprechen Juden im Gegensatz zu Hebräisch heutzutage nicht mehr. Mancher Jude spricht das Kaddisch fast mechanisch, ohne sich zu fragen, was denn drinsteht. Nils Ederberg sagt:
"Zusammengefasst ist es ganz einfach: Gott ist groß und Gott soll uns Frieden, Erlösung, Errettung schicken, schnell. Es ist im jüdischen Kontext ganz klar: Diese Art von Erlösung bedeutet endzeitliche Erlösung, dass es kein Böses, kein Leiden, keinen Tod mehr auf der Welt gibt."
Gelobt, gepriesen, verherrlicht, erhoben, erhöht und gefeiert: Unendlich viele Adjektive dienen dem Lob und der Ehre Gottes.
"Also 'hochgehoben‘, 'gerühmt‘, 'geheiligt‘: Das macht keinen großen Sinn, sich genau lexikalisch zu überlegen, was bedeutet welches Wort, sondern man sucht alle Worte zusammen um zu sagen, Gott ist groß, Gott ist heilig."

Imre Kertész spielt literarisch mit dem Kaddisch

"'Nein!', sagte ich augenblicklich, sofort und ohne zu zögern, gewissermaßen instinktiv, weil es inzwischen ganz normal ist, dass unsere Instinkte gegen unsere Instinkte arbeiten, dass quasi unsere Gegeninstinkte statt unserer Instinkte arbeiten, ja mehr noch - so geistreichelte ich, falls das geistreich genannt werden kann, das heißt: falls die nackte jämmerliche Wahrheit geistreich genannt werden kann ..."
So beginnt Imre Kertész‘ Roman "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" von 1990. Erst nach einigen Seiten erfahren wir, welche Frage der Erzähler mit dem anfänglichen Nein beantwortet. Nämlich die Frage, ob er Kinder habe. Eine harmlos gemeinte Gesprächseröffnung für so etwas wie einen Smalltalk. Der Ich-Erzähler hat die Konzentrationslager überlebt und keine Kinder in die Welt setzen wollen. "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind": Das ist ein Kaddisch für ein Kind, das der Erzähler wegen seines Traumas nicht bekommen konnte, nicht bekommen wollte.
Porträt des ungarischen Schriftstellers Imre Kertész aus dem Jahr 1999.
Der ungarische Schriftsteller Imre Kertész im Jahr 1999© picture alliance / Bruni Meya
Trotz des bitterernsten Themas muss man beim Lesen lächeln, über diese weitschweifigen Sätze, die nicht enden wollen. Vielleicht liegt in dieser Weitschweifigkeit eine gewisse Nähe zum Kaddisch, denn auch das ist um Wortwiederholungen nicht verlegen. Doch ganz sicher stammt diese Methode des Wortschwalls, der endlos wiederholenden Varianten von einem literarischen Gewährsmann, den Kertész ausdrücklich mehrmals nennt: von dem Österreicher Thomas Bernhard. In dessen Romanen schimpft ein erzählerisches Ich oft seitenlang zum Beispiel über die verdrängte Nazivergangenheit in Österreich.
Über Kertész‘ Roman steht als Motto ein Zitat aus Paul Celans "Todesfuge". Immer wieder zitiert Kertész auch im Text das Gedicht, kommt aber auch auf die Themen seines Textes zurück wie in einer Fuge. Bernhard und Celan: eine skurrile Mischung. Denn während Bernhards literarische Methode der Wortschwall ist, ist es bei Celan das Schweigen. Wortschwall und Schweigen haben bei Kertész viel miteinander zu tun.
Der Wortschwall deckt die innere Leere zu. Der Roman "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" ist auch die Geschichte einer gescheiterten Liebesbeziehung. Denn der Erzähler verweigert seiner Frau, ein gemeinsames Kind zu bekommen. Am Ende muss der Erzähler ernüchtert sehen, wie ihn seine frühere Frau mit zwei Kindern begrüßt, die sie mit ihrem neuen Mann hat. Die Kinder werden gebeten, "dem Onkel" doch guten Tag zu sagen.
Kertész zitiert kein Kaddisch. Und doch hat sein kurzer Roman viel mit dem jüdischen liturgischen Text zu tun. Denn der Roman kehrt die Generationenfolge um: Normalerweise sprechen Söhne für ihre verstorbenen Eltern das Kaddisch. Hier gilt das Kaddisch dem ungeborenen und ungewollten Kind. Für das Judentum ist eine intakte Generationenfolge zentral. Die Kinder sollen sich im Judentum so zuhause fühlen, dass sie sich wenigstens ein Kaddisch für die verstorbenen Eltern abringen können. All das kann in diesem Holocaust-Roman nicht mehr funktionieren.

Alan Ginsberg mischt sein Kaddisch mit Bluesmusik

Es ist beinahe gleichgültig, wie viel ein Jude von seiner Religion hält, ob er sie ablehnt oder täglich studiert: Das Kaddisch kennen alle. Auch der amerikanische Pop-Lyriker Allen Ginsberg, der sich sonst eher fernöstlicher Meditation, Marihuana und vor allem Sex widmete, hat ein Kaddisch-Gedicht geschrieben und im Jahr 1961 veröffentlicht - ein sehr anrührendes, langes Gedicht über seine Mutter Naomi Ginsberg.
Die ganze Nacht hat er gebetet und dazu Platten des Jazz- und Blues-Sängers Ray Charles gehört, jetzt geht er durch Manhattan spazieren. Eine Originalaufnahme:
"Strange now to think of you, gone without corsets & eyes, while I walk on the sunny pavement of Greenich Village. / Downtown Manhattan, clear winter noon, and I've been up all night, / talking, talking, reading the Kaddish aloud, listening to Ray Charles / blues shout blind on the phonograph the rhythm the rhythm"
Ein Schwarz-Weiß-Foto des Dichters Allen Ginsberg
Der Beatpoet Allen Ginsberg mischte ein Kaddisch mit Bluesmusik.© imago/ZUMA/Keystone
Blues, blind auf den Plattenteller geschrien. Dann vermischen sich der Rhythmus des Kaddisch und der Rhythmus des blinden Sängers Ray Charles.
"And your memory in my head three years after / And read Adonais triumphant stanzas aloud wept realising how we suffer."
Und ganz nebenbei erklärt uns Allen Ginsberg – oder sein lyrisches Ich –, wozu Dichtung und Religion gut sind. Alle Dichter, so behauptet Ginsberg - oder sein lyrisches Ich -, träumen vom Tod als Heilmittel, als Medikament.
"And how death is that remedy all singers dream of, sing, remember, prophecy as in the Hebrew Anthem or the Buddhist book of answers - and my own imagination of a withered leaf at dawn."
Wichtig ist vor allem: Das lyrische Ich empfindet den Tod der Mutter als Heilmittel - nach einem Leben, das so ganz und gar nicht heil war, wie er gleich schildern wird.
Allen Ginsberg erinnert sich, wie seine Mutter Naomi 50 Jahre vorher in Manhattan angekommen war, aus Russland kommend: an ihre Heirat, ihre Schizophrenie, die Nervenheilanstalten, an ihre Angst vor Hitler, die viele Jahre später immer wieder hochkommt, an ihren Tod. Und natürlich spielt Ginsbergs eigenes Lebensthema eine Rolle: seine Homosexualität.
"Blessed, praised, magnified, lauded, exalted the name of the Holy, blessed is He! In the house in Newark blessed is He! In the madhouse blessed is He! In the house of death blessed is He! Blessed be He in Homosexuality! Blessed be He in Paranoia! Blessed be He in the city! Blessed be He in the Book!"
Sein Gedicht ist Totenklage und Gotteslob zugleich und damit dem Kaddisch ganz nah.

Leonard Cohen thematisiert den Holocaust

Leonard Cohen hat auf seiner letzten CD vor seinem Tod einen Song geschrieben, in dem das Kaddisch vorkommt. "You want it darker", Du willst es dunkler – eine Abrechnung mit Gott, der Massaker und Holocaust zulässt. Und Cohens lyrisches Ich bekennt: Hier bin ich, ich bin bereit, Herr. "Hineini", hier bin ich, sagen in der Bibel Abraham, Isaak und Jakob, wenn Gott sie ruft.
"Hineini, Hineini – I'm ready my lord."
"Ich bin bereit, Herr". Für diesen Song hat Cohen den Kantor und den Chor einer Synagoge aus Toronto engagiert. Es ist die Synagoge seiner Kindheit. Weiter heißt es: Gelobt, gepriesen sei Dein heiliger Name. Verunglimpft, gekreuzigt in der menschlichen Gestalt. Leonard Cohen vermischt Bilder aus verschiedenen Religionen. Viele Motive stammen aus dem Christentum - wie hier die Kreuzigung.
"Magnified, sanctified, be thy holy name. Vilified, crucified in the human frame. A million candles burning for the love that never came. You want it darker - we kill the flame."
Eine Million Kerzen brennt für die Liebe, die niemals kam. Du willst es dunkler. Wir töten das Licht.
Soweit der Song. Die Toten stehen nach jüdischer Vorstellung vor Gericht - entweder gleich nach dem Tod oder wenn der Messias kommt - da sind die jüdischen Vorstellungen recht unpräzise. Doch hier denken nicht nur Leonard Cohen oder sein lyrisches Ich angesichts des Todes an das Gericht. Auch Gott wird angeklagt - und im selben Atemzug gelobt. Wie auch immer die Dichter und Musiker das Kaddisch aufgreifen, eines ist sicher: Wer eine jüdische Erziehung gehabt hat, dem steckt das Kaddisch in den Knochen.
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